Fern der Heimat

Landas Reisen

24/05/2017 Tag D +174

Aguacate

Kreis

Tumaco

Departement

Nariño

Landa, Lan-da, das Wort klettert die Kehle hinunter, während es den Kiefer hinabgleitet. Manch einer, der es hört, könnte versucht sein, an Afrika zu denken, an Malawi oder Tansania. Lwanda, Luanda, Landa. Zwar gibt es in der westafrikanischen Savanne, in einem Nationalpark im Nordosten Nigerias, einen Landa Hill, doch scheint der Familienname Landa von einem anderen Erdteil zu stammen. Einige sprechen von Italien, die meisten jedoch von Euskal Herria, dem Baskenland, wie es auf Deutsch genannt wird: Landa, Name einer Ortschaft in Ubarrundia, Sandheide, Land wilder Pflanzen, flaches Ödland.

 

Landa ist auch ein hochgewachsener Schwarzer mit langen, zu Zöpfen geflochtenen Haaren, der im Dorf Aguacate in der Umgebung von Tumaco, im Gebiet zwischen dem Río Mejicano und dem Mira geboren ist. Er heißt Wilfrido, Wilfrido Landa. In den Zeitungen war er in weißer Kleidung und mit einer Rastamütze zu sehen, die die Hälfte seiner Zöpfe verbarg. Er trug eine lange Kette aus bunten Perlen. Am Rand des schwarzen, roten, gelben und grünen Tuchs lugten seine bereits grau eingefärbten Koteletten hervor. Steif posierte er gemeinsam mit anderen, die aus anderen Landesteilen Kolumbiens stammten, aber genau wie er ihre Geschichten von Schmerz und Krieg zu erzählen hatten. Man sah ihn, wie er Regierungsbeamten und Guerilla Kämpfern die Hand schüttelte.

Man hat Landa auf verschiedenen Flughäfen der USA lächelnd aus dem Flugzeug steigen sehen, konzentriert und aufgeregt in Havanna, verängstigt und atemlos in Cali und Bogotá.
Landas Reisen beginnen im Wasser, in Kanus, die aus den Stämmen von Lorbeerbäumen, Steineiben und Röhrenkassien hergestellt sind. Sie beginnen auf dem Land, zu Fuß auf den kaum erkennbaren Wegen durch die Stoppelfelder von Aguacate, einem der fünfzehn Dörfer, die sich zu einer von den schwarzen Bevölkerungsgruppen kollektiv betriebenen Genossenschaft zusammengeschlossen haben: dem Gemeinderat Rescate–Las Varas.

Seine Mutter: Bäuerin, Bäckerin, Hebamme und Patin von mehr als hundert Kindern des Orts. Sein Vater: Bauer und, mit der Taschenlampe in der Hand, Wächter von Mar Agrícola, einem Krabbenzuchtbetrieb, bis man ihn an einem Märztag vor dreißig Jahren mit drei Einschüssen in der Stirn im Wasser treibend fand.

 

Nach dem Tod des Alten brach Landa die Schule ab und begann seine Wanderschaft, die erste große Reise: drei Jahre durch die Provinzen Valle und Putumayo. „Gelegenheitsarbeiten auf dem Bau: Wände, Schlösser, Gipserarbeiten, leichtes Zeug“. Im Jahr 2000 kehrte er nach Aguacate zurück, zurück zu Soledad: „Es ging mir nicht darum, das Abi zu machen, sondern zu heiraten. Ich bin mit der Soledad zusammengezogen und 2002 kam dann die Flor zur Welt”.

 

Vor seinem Aufbruch in den “dreijährigen Urlaub”, wie er es nennt, waren Landa und andere junge Leute aus der Gegend durch die Dörfer gezogen und hatten mit den Männern und Frauen schwarzer Hautfarbe über die damals noch weitgehend unbekannte Möglichkeit gesprochen, das Land, das schon ihre Vorfahren bewohnt hatten und das als “öffentliches Brachland” galt, als Kollektiveigentum der schwarzen Bevölkerung verzeichnen zu lassen. In der Verfassung von 1991 wird Kolumbien als „multiethnische und plurikulturelle Nation“ definiert. Eins der daraus herrührenden Grundrechte besagt, dass ethnisch verfasste Gemeinschaften die Möglichkeit haben, die von ihnen bewohnten Gebiete mit einem gewissen Grad an Autonomie zu verwalten. Diese Möglichkeit bestand bereits zuvor für indigene Gruppen, nun aber erstmals auch für die schwarze Bevölkerung.

Der Gemeinderat Rescate–Las Varas wurde schließlich am 14. März 1999 gegründet. Zu diesem Zeitpunkt befand sich Landa noch auf seiner Wanderschaft durch Putumayo. Aber nach seiner Rückkehr widmete er sich nicht nur der Feldarbeit in Aguacate, pflanzte Ölpalmen und baute mit Soledad und Flor ein Haus, sondern zog auch erneut durch die Dörfer und wurde 2007 zum gesetzlichen Vertreter des Gemeinderats gewählt. Im Jahr 2010 wurde er von der Generalversammlung in seinem Amt bestätigt.

Tumaco-Bogotá, 2013

Es ist zwölf Uhr mittags, am anderen Ende der Leitung hört er die Stimme, die er schon kennt: es ist ‘El Jefe’. Landa versucht, sich nach dem genannten Papier zu erkundigen, nach Havanna. Scharfe, harte Antworten. Sie sind zum militärischen Ziel erklärt worden. Wenn ich auch nur Ihren Schatten finde, bringe ich diesen Schatten um. Das Papier für Havanna, wo steht, dass ich, dass die FARC in Tumaco Untaten begehen: Mord, Entführung, Erpressung, Drogenhandel. Militärisches Ziel, militärisches Ziel.

 

Auch wenn er die Gründe nicht versteht, ist doch klar, dass er so schnell wie möglich aus Tumaco fliehen muss. Pasto? Nein. Cali? Nein. Bis dorthin reicht der Einfluss des ‘El Jefe’. Bogotá!
Es ist kurz vor fünf und der Flug nach Bogotá ist ausgebucht. Die nächste Maschine geht um sieben Uhr morgens. Nur Landa und José, der Vorstandsvorsitzende, werden an Bord gehen. Das Geld der Stadtverwaltung von Tumaco reicht nicht aus, um auch die anderen und ihre Familie sofort in Sicherheit zu bringen. Es handelt sich um den gesamten Vorstand, zehn Familien, 43 Personen; der gesamte Vorstand des Gemeinderats ist nun in einem Zimmer des Hotels La Sultana versammelt. Eine lange Nacht, in der nur geflüstert wird, eine Nacht in Weiß.

Beide stehen in dem kleinen Warteraum gleich hinter der Gepäckkontrolle des Flughafens von Tumaco; ihre nassgeschwitzten Arme berühren sich. Landa blickt auf, schaut auf den Bildschirm des Fernsehers gleich über der Zugangstür, sein Blick fällt auf die zwei Männer, die sich dort an einen Pfeiler lehnen; in Sekundenbruchteilen erkennt er sie. Nervös kritzelt er etwas mit seinem Kugelschreiber auf einen Zettel. José schaut auf das Stück Papier, das Landa ihm vor die Brust hält. Der mit dem blauen Hemd und der mit dem schwarzen Hemd. José blickt auf die Wand gegenüber, sein Blick fällt auf die beiden Männer, seine Augen beginnen zu tränen.

Verstecken, eine Durchsage, eine weitere Durchsage. Draußen, zwischen dem Gepäck, den Leuten und den Schildern mit der Aufschrift „Willkommen“ warten der mit dem blauen Hemd und der mit dem schwarzen Hemd.

 

Untertauchen, im Lärm der anonymen Straßenfluchten Bogotás verschwinden. Die Wohnung eines Freunds, das Haus eines anderen, die Zuflucht, Polizeischutz, gepanzerte Fahrzeuge, bewaffnete Männer, die sie vor anderen bewaffneten Männern beschützen. Reisen zu den Schaltern und Formularen. Bürgeramt, Aufsichtsbehörde, Staatsanwaltschaft, Amt zur Betreuung und Entschädigung der Konfliktopfer, die bereits tausendmal erzählte Geschichte der Vertreibung.

“Alles ist in Aguacate zurückgeblieben. Alles: das Haus, das Vieh, das Land. Alles. Wenn mich die Psychologin nach meinem Lebensprojekt fragt, sage ich: Das ist in Aguacate geblieben.”

Tumaco, 2007

Landa erinnert sich noch gut. Es war 2002 oder 2003, Flor war noch ein winziges Ding. Im Morgengrauen erreichten Hunderte Männer in Kampfuniformen und mit gezückten Waffen die nahe gelegene Ortschaft San Luis Robles. Sie holten die Bewohner aus ihren Häusern und versammelten alle auf dem Dorfplatz. “Das war eine große Versammlung und die Leute haben den FARC-Guerilleros gesagt, dass sie sie nicht brauchten, weder sie noch die anderen, und dass sie besser verschwinden sollten. Ganz schön mutig, den FARC-Leuten so entgegenzutreten, nicht mit Waffen, sondern mit Worten.”

Was danach kam, weiß in Tumaco jedes Kind. Die Kokaanbauflächen weiteten sich aus. Siedler und Tagelöhner aus Putumayo und Caquetá zogen zu. Mit den Kokapflanzen und dem Geld kamen auch die Rastrojos: “Das waren paramilitärische Gruppen, aber niemand von denen stammte aus unserer Gegend. Erst später sind auch unsere jungen Leute diesen Verbänden beigetreten. Von diesem Zeitpunkt an ließen sich die Paramilitärs zwar häufiger blicken, aber ohne sich wirklich bei uns niederzulassen. Die kamen nur, um sich die Kokapaste zu besorgen. Die kamen, holten den Stoff ab und zogen weiter.”

 

Mit dem Kanu flussaufwärts gegen die reißende Strömung, auf dem Rücksitz eines klapprigen Motorrads über holprige Feldwege, die eine Hand am Haltegriff, in der anderen der Sack mit den Kokablättern, von einem Dorf ins nächste, vom Haus eines Freunds weit oben in den Bergen ins Stadtzentrum von Tumaco zu einem Behördentermin, vom Rathaus ins Guerillalager und zurück nach Hause zu Frau und Kindern, dann die Arbeit auf der Palmenpflanzung, die Ernte, der Verkauf der Feldfrüchte, weil man das Geld zum Leben braucht, weil es im Haus ja immer an irgendetwas fehlt, und gleich wieder ins Kanu, auf das Motorrad, über die Feldwege. So vergingen die Tage von Landa, von José Félix, von Henry Adolfo, und nicht viel anders auch die von Dargen, Jenny, Segundo, Jesús, Harry, Rubén, María, Diógenes, Wilfrido Octavio, Alí, Segundo, Publio, Jesús Francisco und Yudy.

„Diese Leute sind zwar bewaffnet, aber mit denen kann man wenigstens reden. Die verstehen einen, man versteht die, das ist völlig normal, aber für den kolumbianischen Staat ist es unzulässig, dass man das als Kommunalpolitiker, als Zivilist macht; das geht nicht. Aber wir, die wir in den hintersten Winkeln des Landes leben, an den Flussufern, im Urwald, überall da, wo der Staat nicht hinkommt, wir müssen eben mit diesen Leuten sprechen, die sich auf unserem Territorium aufhalten.“

In den Dörfern rund um Tumaco sah man jetzt immer häufiger das hell leuchtende Grün der Kokasträucher, das so ganz anders war als der matte und eintönige Grünton der Ölpalmenpflanzungen oder die vielfältigen Farbabstufungen des Urwalds. Aber auch die grünen Uniformen der Bewaffneten sah man jetzt häufiger, und aus immer größerer Nähe. Es gab Personen, die das Gebiet nicht mehr verlassen durften, und andere, denen der Zutritt verboten war. Drei Tote hier, zwei vertriebene Familien weiter oben, hier ein Toter, dort ein Toter. Einladungen, die man nicht ausschlagen konnte: in ein Lager, zu einer Mobilmachung, die Einladung, fünfzig Millionen Pesos zu spenden. Während des Fußballspiels am Samstagnachmittag klingt Geflüster über den drohenden Tod aus den Stimmen der Bekannten, der Ball rollt und die Ruhe ist dahin. Männer und Frauen, Alte und Junge, bedroht, eingeschüchtert, ermordet.

„2007 wendet sich die Gemeinschaft an ihre Führung, an den Vorstand des Gemeinderats, weil die Menschen nicht mehr länger in der Illegalität leben wollen, weil sie erkannt haben, dass der Kokaanbau ihnen zwar Geld einbringt, aber auch Kriminalität, paramilitärische Verbände, FARC-Guerilla. Und vor allem: der gesellschaftliche Zusammenhalt ging verloren; die Jungen rutschten ab in die kriminellen Gruppen. Was sollten sie auch sonst tun? Arbeit gab es nicht, Bildungsmöglichkeiten auch nicht. Die Gemeinschaft hat also insgesamt die Entscheidung getroffen, da auszusteigen, und sie haben uns, ihre Führer, gefragt: Was sollen wir jetzt machen? Wenn wir aus dem Kokaanbau aussteigen, wovon sollen wir dann leben?“

Tumaco – EE.UU, 2011.

Ein großes Flugzeug, größer als die Flieger nach Cali oder Bogotá. Danach landen noch einen Monat lang weitere, kleinere Maschinen auf acht verschiedenen Flugplätzen der USA. Inmitten der Fluggäste verlässt Landa, der gesetzliche Vertreter von Rescate–Las Varas, das Flugzeug. Über endlose Gänge zu den Büros des Außenministeriums, der Justizbehörden, der Polizei, des Pentagons. Immer wieder fällt das Wort “coca” auf Spanisch und dann: Wir schaffen das, Territorium, Kollektiv, Dorf, schwarze Bevölkerungsgruppen, Rat, Gemeinschaft, Kakao, Selbstversorgung. Vielleicht wird denjenigen, die ihm zuhören, sogar begreiflich, was man in Tumaco und anderswo auf den Feldwegen Kolumbiens feststellen kann: In den Kokapflanzungen sind keine Klischee-Ganoven am Werk, wie sie im Fernsehen und im Kino zu sehen sind. In den Kokapflanzungen – anders als beim Verladen der Kokainpakete – sieht man Bauern, gewöhnliche Menschen, die die Pflanzen, das Land, den Wald und das Wasser kennen.

 

“Las Varas schafft das” lautete der Name des Programms, das sich die Gemeinschaft ausgedacht hatte und das von der Provinzverwaltung von Nariño gefördert wurde.

„Wir haben angefangen, indem wir 1.252 Hektar Kokapflanzungen durch andere Anbauprodukte ersetzt haben. Einen Hektar für jede der 1.252 Familien, die unser Gemeinderat umfasste. Lebensmittelsicherheit statt Kokaanbau. Wir haben Maniok, Bananen, Tomaten, Bohnen, Mais, Reis angepflanzt. Jede Familie hat einen Hektar bewirtschaftet. Nicht alles ging in die Selbstversorgung. Ein bestimmter Prozentsatz war für die Weiterverarbeitung und ein anderer Anteil für den Tauschhandel. Wenn du Reis angebaut hast und ich Mais, dann haben wir unsere Produkte ausgetauscht. 10% der Ernte war für den Verkauf auf dem lokalen Markt bestimmt”.

Das Programm umfasste Vereinbarungen mit der Regierung in Bogotá über die Aussetzung der Besprühung der Anbauflächen aus der Luft. Die niedergehenden Giftstoffe hatten außer den Kokapflanzen auch den Urwald, die Flüsse, die Äcker, die Menschen und das Vieh getroffen und geschädigt. Aber auch das zwangsweise Ausreißen der Kokasträucher durch Soldaten sollte eingestellt werden. Die Begründung war, dass die Bewohner selbst auf freiwilliger Grundlage ihre bisherigen Kokapflanzungen durch alternative Anbauprodukte ersetzen wollten.

“Die US-Beamten haben Bauklötze gestaunt, als ich ihnen erklärte, dass all das auf FARC-Gebiet vor sich ging und dass wir zu den Guerillakämpfern gesagt hatten: Dieses Land hat schon unseren Vorfahren gehört. Jetzt gehört es uns. Hier sind wir das Gesetz. Die Beamten haben gefragt: Und wieso konntet ihr euch das erlauben? Und ich habe ihnen erklärt, dass die gesamte Bevölkerung hinter uns stand. Die gesamte Bevölkerung war fest entschlossen, aus dem Kokaanbau auszusteigen. Wir wollten den Ausstieg, aber mit der Möglichkeit, alternative Anbauprodukte zu pflanzen. Und zwar solche, von denen wir selbst überzeugt waren, nicht irgendwelche Pläne, die sich ein sogenannter Experte an einem Schreibtisch ausgedacht hat. Und das hat uns international viel Unterstützung eingebracht“.

Bogotá- Cuba, 2014.

Als sie auf der Insel landen und die Gangway hinabsteigen, warten unten bereits Victoria Sandino und Marcos Calarcá von den FARC, ein kubanisches Empfangskomitee und eine Delegation der norwegischen Botschaft. Es beginnt ein langes Händeschütteln. Die 18 Kilometer bis ins Stadtzentrum legen sie in Fahrzeugen der kubanischen Regierung zurück.

„Wir sind zuerst in einen Nebenraum gekommen, wo viele Leute versammelt waren. Da ging es viel steifer zu. Wir wurden begrüßt, und dann hieß es, wir sollten keine Angst haben. Wir sollten alles sagen. Auch die FARC-Leute, Calarcá und Victoria, haben gesagt, dass wir ruhig alles erzählen sollten, dass sie uns, die Opfer, hören wollten, dass wir den ganzen Schmerz rauslassen sollten. Und dann plötzlich bitten sie uns um Verzeihung, noch in dem gleichen Raum, für alles, was sie jedem einzelnen von uns angetan haben, für das, was sie Kolumbien angetan haben, das war das erste, was sie zu uns gesagt haben. Und wir haben nur gedacht: Was ist denn hier los? Denn wir hatten ja unsere Bedenken gehabt, denen zu begegnen. Und dann ging es in einen anderen Raum, da waren die Journalisten, und wir haben eine Erklärung abgegeben”.

Von den 8.405.265 erfassten Opfern des bewaffneten Konflikts in Kolumbien* wurden von August bis Dezember insgesamt 60, aufgeteilt in fünf Gruppen, zu den Friedensverhandlunegn in Havanna hinzugezogen. Dort sollten sie über Verletzungen der Menschenrechte und des internationalen humanitären Rechts berichten, um auf diese Weise die Perspektive der Opfer in die abzuschließende Friedensvereinbarung einzubringen. **

Offizielle Zahl laut Einheitsverzeichnis der Opfer im Zeitraum vom 1. Januar 1985 bis 1. April 2017. +Mehr Info

 

** Die Auswahl der Teilnehmer trafen das UN-Entwicklungsprogramm, die Universidad Nacional de Colombia und die kolumbianische Bischofskonferenz auf Bitten der Verhandlungsdelegationen von kolumbianischer Regierung und FARC-EP.

Bedrohung, Anschlag, Verschwinden, außergerichtliche Hinrichtung, Mord, Massaker, Antipersonenmine, Rekrutierung, Entführung, Folter, Vertreibung, sexuelle Gewalt.
Unter den Reisenden befanden sich Zivilisten, Soldaten, Unternehmer, Gewerkschaftler, Ordensleute, Wissenschaftler, Journalisten. Es handelte sich nicht nur um Opfer von Kampfhandlungen der Regierungstruppen und der FARC, sondern auch von paramilitärischen Verbänden und kriminellen Organisationen sowie der zweiten, nicht an den Verhandlungen beteiligten Guerillagruppe ELN (Nationales Befreiungsheer). Sogar ein Fall der Schädigung durch multinationale Bergbaufirmen war vertreten. Frauen, Männer, Kinder, Angehörige der LGBTI-Gemeinschaft, Behinderte, Schwarze, Indigene und ein Bauernführer.

„Um den Fall der Vertreibung unseres Vorstands (von Rescate-Las Varas) zur Sprache zu bringen, wurde ich ausgewählt. An einem Mittwoch erhielt ich einen Telefonanruf. Ich sei ausgewählt worden, um mit der vierten Gruppe von Opfern nach Havanna zu reisen. Ich dürfe mit niemandem darüber sprechen. Nicht mit der Presse, nicht einmal mit meiner Frau. Ich sagte: Na klar. Am nächsten Morgen sprach ich mit Soledad; sie sagte mir: Wenn du das machen willst, dann mach es ruhig.

Vor der Reise trafen sich elf der zwölf Delegationsmitglieder in einem Hotel im Norden von Bogotá. Der zwölfte der Gruppe war Tulio Murillo, ein inhaftierter FARC-Kämpfer, der über Video aus dem Gefängnis zugeschaltet werden sollte, um über die Drohungen zu berichten, die er erhalten hatte.
Nach der Begrüßung in Havanna wurde die Delegationsgruppe zunächst in ein Hotel gebracht. Für acht Uhr morgens am nächsten Tag war das Treffen angesetzt, bei dem jeder von ihnen einige Minuten lang über seine Erlebnisse berichten sollte.

„Die Nacht ging nicht vorbei, ich hatte keine Ahnung, was ich sagen sollte. Alles, was ich aufgeschrieben hatte, hatte ich wieder völlig vergessen. Um sieben Uhr morgens standen wir auf. Wir wurden in einem Bus zur Tagungsstätte gebracht“.

Die elf mussten sich in einer Reihe aufstellen, um einer nach dem anderen, jeder fünfzehn Minuten lang, über die Ereignisse zu berichten, die ihr Leben für immer verändert hatten.

„Ich war ungefähr als zehnter dran. Erst kam ein Mitreisender, dann das Video von Tulio und dann kam ich an die Reihe. Ich hatte fünfzehn Minuten Zeit. Aber wenn man einmal anfängt, fällt einem alles wieder ein. Irgendwann machte mir der Pfarrer ein Zeichen, dass die Zeit um war. Aber ich habe noch gar nicht alles erzählt, sagte ich. Deshalb durfte ich noch fünf Minuten länger reden. Aber dann war wirklich Schluss”.

Nachdem alle berichtet hatten, gab es ein Mittagessen. Landa saß neben einer UNO-Beamtin, die ihm irgendwann ein Zeichen gab, dass jemand mit ihm sprechen wolle. „Es war der FARC-Verhandlungsleiter Iván Márquez. Er wollte, dass ich mich zu ihnen setzte, um ihnen meinen Fall ganz genau zu erzählen. Ich habe ihnen gesagt: In Tumaco wird die Frau vom Zeitungsstand erpresst. Der Fischverkäufer auf dem Markt wird erpresst. Die Menschenrechte werden in unbeschreiblicher Weise verletzt. Ich habe auch von den Verstümmelten erzählt. In Tumaco werden die Menschen verstümmelt. Danach habe ich über meinen eigenen Fall gesprochen. Iván Márquez war ziemlich erstaunt, er hat mir gesagt: Wir wissen ja, dass wir bei Ihnen in Tumaco ein paar FARC-Mitglieder haben, die nur Mist bauen. Aber das werden wir schon korrigieren, hat er gesagt. Sechs Monate später hat die Armee den Kommandanten “Oliver” getötet. Den “El Jefe”, der für unsere Vertreibung verantwortlich war, hatten sie zu der Zeit schon geschnappt.

Am 25. Februar 2014 konnten Landa, Soledad und alle anderen es im Fernsehen sehen und in der Zeitung lesen. “Schwerer Schlag gegen den Terror in Tumaco”. Der FARC-Drogenboss “El Jefe” konnte im Urwaldgebiet in der Nähe von Tumaco gefangen genommen werden. Dem Guerillakämpfer werden mehrere Attentate zur Last gelegt. Er trug ein Gewehr, eine 5,6 mm-Pistole, Munition und mehrere USB-Sticks bei sich. Er hatte sich damit gebrüstet, dass niemand ihn fassen könne.
Auch das Heer meldete die Gefangenname von alias “El Jefe”, des Dritten in der Hierarchie des FARC-Blocks “Daniel Aldana”. Der Zugriff war im Gebiet von San Pedro del Vino zwischen den Flüssen Rio Mejicano und Mira, etwa zwei Stunden von Puerto de Nariño entfernt, erfolgt.

Im Dezember 2015 wurden Landa und neun weitere Mitglieder aus der Gruppe der 60 Konfliktopfer, die ein Jahr zuvor nach Havanna gekommen waren, erneut in die kubanische Hauptstadt eingeladen. Diesmal sollten sie an der Vorstellung der Vereinbarung über den Umgang mit den Konfliktopfern teilnehmen. Dabei sollten auch die Grundzüge der Übergangsjustiz erläutert werden, der sie sich die Akteure des bewaffneten Konflikts nach dem Friedensschluss zu unterwerfen hätten.

Anfang 2016 gelang es dem “El Jefe”, der mittlerweile im Gefängnis von Palmira einsaß, über Familienangehörige mit Landa Kontakt aufzunehmen. „Ich war gerade im Bus, als er mich anrief. Ich stieg aus und wir sprachen etwa zwanzig Minuten lang. Er bat mich um Verzeihung und sagte, er habe einen Fehler begangen, aber er wolle den Schaden wieder gutmachen. Sein Anwalt würde ein Treffen im Gefängnis arrangieren, und ich sagte ihm: Sie wissen ja, dass wir ein Kollektiv sind. Wir mussten alle fliehen. Wenn ich Sie im Gefängnis besuche, dann kommen die anderen mit. Das war Anfang 2016. Mitte September rief mich die Staatsanwältin an, die für den Fall zuständig war, und sagte mir, “El Jefe” wolle uns einen Vorschlag machen. Sein Vorschlag war, durch eine öffentliche Erklärung die Verantwortung für die Ereignisse zu übernehmen, dem Gemeinderat die Güter zurückzugeben, die er ihm seinerzeit abgenommen hatte, die Bevölkerung um Verzeihung für unsere Vertreibung zu bitten und außerdem öffentlich zu erklären, dass die FARC die Unwahrheit gesagt hatten, und dass wir nicht deshalb vertrieben worden waren, weil wir uns auf Kosten der Gemeindekasse bereichert hätten, sondern wegen unsers Widerstands gegen die FARC.

Landa antwortete sofort, die Erklärung dürfe nicht per Video erfolgen, so wie es schon mehrere FARC-Angehörige gemacht hatten, die aus dem Gefängnis um Verzeihung für die Ermordung von Aktivisten der schwarzen Bevölkerungsgruppen gebeten hatten.* Nein, das müsse schon persönlich geschehen, der “El Jefe”, müsse aus dem fast 700 Kilometer entfernten Gefängnis nach Rescate-Las Varas kommen, dort um Verzeihung bitten und so die Voraussetzungen erfüllen, die im Friedensabkommen zwischen der Regierung und den FARC bezüglich der Übergangsjustiz festgelegt seien.

José Hamilton Castillo, Mörder von Míller Angulo Riveros (Mitglied des Ortskomitees der Konfliktopfer von Tumaco und des Provinzkomitees der Konfliktopfer, ermordet am 1. Dezember 2012), und Juan Carlos Caicedo, Mörder von Gílmer Genaro García (gesetzlicher Vertreter des Gemeinderats von Alto Miraundy Frontera, ermordet am 3. August 2015), stimmten einer Vereinbarung mit den Justizbehörden zu, welche das Schuldeingeständnis und die Bitte um Verzeihung enthielt.

„Dazu ist es aber nicht gekommen. Sein Anwalt legte das Mandat nieder. Er hat zweimal den Anwalt gewechselt, und die neuen Anwälte haben ihm immer davon abgeraten, öffentlich seine Schuld einzugestehen. Sie haben ihm davon abgeraten, mit uns eine Vereinbarung abzuschließen, die von der Staatsanwältin vorbereitet wurde“.

Der “El Jefe” wurde wegen Erpressung, Aufstand und Terrorismus zu 17 Jahren Haft verurteilt, aber wenn er sich der Übergangsjustiz unterwirft, kommt er nach acht Jahren frei. Im Friedensabkommen ist zwar von Wahrheit, Entschädigung und Nichtwiederholung die Rede, nicht aber von den Ängsten der Opfer vor Vergeltungsmaßnahmen; und diese wuchern wie Unkraut.

“Wir wollen nicht an dem Verfahren gegen ihn wegen Vertreibung oder anderer Beschuldigungen teilnehmen. Unsere Familie lebt dort und eines Tages müssen vielleicht auch wir nach Tumaco zurückkehren. Was haben wir davon, wenn ihm jetzt auch noch unseretwegen der Prozess gemacht wird? Mit den ganzen Verfahren, die er jetzt schon am Hals hat, hat er genug zu tun. Und unsere Pläne von damals können wir ohnehin nicht mehr verwirklichen. Was gewesen ist, ist gewesen. Jetzt wollen wir neu beginnen und da ist es besser, hierzubleiben und keinen Ärger zu haben“.

Bogotá – 2017.

 

Auf dem Flughafen von Bogotá, wo nun alle seine Reisen ihren Anfang nehmen, geht Landa zwischen den Passagieren auf und ab. Er trägt nicht nur sein Gepäck, sondern auch seine Erinnerungen.

„Die Wasserleitung, die wir bauen wollten, wurde nie fertiggestellt. Und so ist es mit vielem gegangen. Kokaanbau gibt es jetzt doppelt so viel wie früher, als wir ihn beseitigen wollten. Kokaanbau von Fremden und von unseren eigenen Leuten. Wir haben ein Projekt mit der Entwicklungsbehörde begonnen, aber der kolumbianische Staat hat sich nicht an die Vereinbarungen gehalten. Das Geld, was wir gebraucht hätten, ist nie eingetroffen. Die Menschen hatten sich große Hoffnungen gemacht, und was ist daraus geworden? Nichts. Was soll man da schon tun? Kokasträucher pflanzen“.

In Bogotá hat Soledad Theologie studiert und arbeitet nun in einem Kindergarten im Süden der Stadt. Flor besucht das Gymnasium und wird bald fünfzehn Jahre alt. Landa studiert abends Sozialarbeit und arbeitet tagsüber in der Behörde für die Betreuung der Konfliktopfer. Zu seinen Aufgaben gehört die Betreuung der Opfer, die bestimmten ethnischen Gruppen angehören. Landa reist in Städte an der Pazifik- und Karibikküste, im Urwald und im Andenhochland. Seine Verkehrsmittel sind das Flugzeug, der Bus, das Pferd und die Füße mit Gummistiefeln. Er besucht die Siedlungsgebiete von Schwarzen und Indigenen, nur nach Aguacate ist er nie zurückgekehrt.

“Meine Pläne sind, mein Studium abzuschließen, Stabilität in der Arbeit zu finden und, so Gott will, in den Weihnachtsferien nach Tumaco zu fahren. Aber nur zu Besuch“.

Der alias wurde aus Sicherheitsgründen geändert.