Nicht einen Schritt zurück

Geschichten von der letzten Versammlung der FARC-EP als Guerilla-Organisation

08/02/2017 Tag D +69

Yarí

Kreis

San Vicente del Caguán

Departement

Caquetá

Um den Bullen Um den Bullen festzuhalten, waren nicht weniger als fünfzehn Guerillakämpfer erforderlich, die mit aller Kraft an ihm zerrten, um ihn zum Schlachtplatz zu führen. Der Bulle sprang, brüllte und stieß mit seinen Hörnern nach den Männern. Inmitten dieses Treibens hätten die meisten Menschen ElPollo wohl übersehen. Selbst dann noch, als er seine blutüberströmten Hände in die Rippen des Bullen legte, wirkte er unscheinbar. ElPollo, ein stiller und wortkarger Mann, zerrte hier und schnitt dort, während das Tier sich unter seinen Händen in Fleischfetzen verwandelte. Davon würden sich die Guerillakämpfer und ihre Besucher ernähren, die in der Savanne von Yarízur letzten großen Versammlung der FARC vor der Niederlegung der Waffen zusammengekommen waren – die einen als direkt Beteiligte, die anderen als Zuschauer.

Seine Uniform trug noch den Geruch des Bullen, als ElPollo sein Messer an einem Holzblock wetzte, indem er große Späne abschabte. Sorgfältig prüfte er den Schliff des Messers an seinem Finger und säbelte dann weitere saftige Fleischstücke von dem Bullen ab. Ohne die Augen von dem Messer zu lassen, erinnerte er sich an die früheren Jahre, die noch so weit von seinem späteren Leben als Guerillero entfernt gewesen waren, weit weg von dem Gestrüpp und dem Schlamm, mit dem er morgens aufwacht und abends einschläft.

– In die Schule zu gehen, war nicht so mein Ding. Ich wollte lieber mit meinen Freunden spielen und den ganzen Tag durch Neiva laufen, um alles kennen zu lernen.

So war ElPollo früher, ein schlaksiger Junge mit gekrümmtem Rücken, der durch die Straßen seiner Stadt am Ufer des Río Magdalena bummelte, während die anderen in die Schule gingen. Manchmal ging er zwar auch in die Schule, aber dann prügelte er sich meistens mit seinen Mitschülern. Einmal wurde er deshalb zur Psychologin gebracht.
– Die war sehr hübsch, daran kann ich mich noch gut erinnern. Die hat mir einenVortrag nach dem anderen gehalten. Die wollte wissen, was eigentlich mit mir los war. Die hat geredet und geredet, mal von der einen Seite, mal von der anderen Seite. Ich habe gar nichts gesagt, ich habe die nur angeschaut. Und irgendwann hat sie wohl verstanden, dass sie zu mir nach Hause gehen musste. Die ist dann mitgegangen zu meiner Mutter und da hat sie wohl gemerkt, dass ich aus einem Stadtteil war, wo nur ganz schlimme Leute leben. Da haben die Lehrer dann verstanden, warum ich so war und dass sie froh sein mussten, wenn ich überhaupt mal in die Schule gekommen bin. Sonst hätten wir ja nie etwas gelernt.

Das war, bevor ElPollo anfing, mit einem Gewehr auf der Schulter und einigen Minen im Rucksack durch den weiten Süden Kolumbiens zu pilgern.

Auch María, eine etwa fünfzigjährige Frau, führt ein unstetes Leben; seit 2004 streift sie durch die Straßen von San Vicente del Caguán, einem der Orte auf dem Weg in die Savannen von Yarí inmitten des Amazonasurwalds.

– Es gibt da viel gutes Land, viele Fische; wir haben da mit unseren eigenen Händen Maniok und Bananen angebaut, gefischt und das Fleisch von Wildtieren gegessen. Wirklich schön ist es da!

María sagt, dass ihr Grundstück dort hinten liegt, gleich neben dem Platz, wo die Guerilla mitten in dem scheinbar unbewohnten Tiefland ein Dorf aus dem Boden gestampft hat. Sie bezeichnet sich als Yaguara“, als Bewohnerin von Yaguará II*; und die Betonung des Worts verschiebt sich, je nachdem, ob sie über den Ort oder über dessen Bewohner spricht.

Yaguará II istein multiethnisches Indigenenreservat, in dem Angehörige der Pijao, der Piratapuyo und der Tucano (aus dem Departement Vaupés) sowie bäuerliche Gruppen aus La Macarena, Arauca undTolima leben.

Marías Volk besitzt Abenteurergeist. In den sechziger Jahren erhielten die Pijao-Indianeraus Tolima ein verlockendes Angebot: Angesichts der Gier, mit der die Großgrundbesitzer ihnen ihr Land wegnahmen, das die spanische Krone ihnen großzügig zu überlassen geruht hatte, und noch inmittendes Schlachtenlärms der Zweiparteienkriege, sagte die Militärregierung ihnen, dort unten gebe es ein Tiefland, so wie sie es kennen, haargenau wie ihres daheim in Tolima, sie müssten ja nur hingehen, den dort wuchernden Urwald roden, säen und ein Dorf gründen. Alles solle ihnen gehören, sie müssten sich nur in ein kleines Flugzeug setzen, das sie einen nach dem anderen im Urwald absetzen würde, den zu „zivilisieren“ ihre Aufgabe wäre. Es handelte sich um einen Plan zur landesweiten Nutzung brachliegender Landstriche, und ganz nebenbei wohl auch zur Erstickung des Indigenenaufstands, der schon seit den Tagen von Quintín Lame* schwelte, jenem Indigenen, der sich als Sohn einesNasa* und einerMisak* der Pijao-Bewegung anschloss. Diese erreichte immerhin, dass der Landbesitz der Pijao in Tolima ins Grundbuch eingetragen wurde.

Quintín Lame war ein Indigenenführer, der sich für das Recht der indigenen Bevölkerung auf das Land einsetzte, das schon ihre Vorfahren bewohnt hatten. Sein Wirken zu Beginn des 20. Jahrhunderts war ausschlaggebend für die spätere Gründung der ersten indigenen Guerillabewegung Lateinamerikas: Movimiento Quintín Lame. Die Organisation führte ihren Kampf für das Recht auf Land von 1984 bis zu ihrer Demobilisierung 1991, die teilweise als erfolgreichstes Beispiel für die Wiedereingliederung von Guerillakämpfern in der kolumbianischen Geschichte angesehen wird. +Mehr Info
DIeNasasind ein indigenes Volk Kolumbiens, das überwiegend südlich der Anden in der Region Tierradentro im Grenzgebiet der Departements CaucaundHuila lebt. Daneben siedeln die Nasa auch am Osthang der Zentralkordillere und im Andenvorland des Amazonasbeckens.
Die Misak oder Guambiano sind ein indigenes Volk Kolumbiens, das seit präkolumbianischer Zeit im Nordwesten des Departements Cauca lebt.

Diejenigen Pijao*, die das Tiefland von Yarí erreichten, trafen auf eine neue und erschreckende Welt: undurchdringlicher Urwald, Mückenschwärme, die in der feuchten Luft zu schwimmen schienen, Tiger, farbige Schlangen, Flüsse, in denen sie sich nicht auskannten, endlos viele unbekannte Fischarten.Mit der Zeit schufen die Pijao sich eine neue Heimat. Sie rodeten das Land, legten Wege an, lernten, die Tiere, die hier lebten und die ganz anders waren als in Tolima, zu jagen und zu fischen. Später kamen über den Fluss auch andere, die keine Pijao waren, sondern Indigene anderer Ethnien, die ihrem Sklavendasein als Kautschuksammler entronnen waren; hinter ihnen lag eine abenteuerliche Reise von Vaupés durch Flüsse und Urwald bis nach Yaguará II – Pelzhändler und Reisende hatten ihnen von diesem Ort erzählt. Noch später zogen die Nachrichten von einträglichem Marihuana- und Kokaanbau Kleinbauern auf der Suche nach dem schnellen Geld an, das Reservat füllte sich mit Glücksrittern und Flüchtlingen aus unterschiedlichen Kulturen.
Die Pijao sind eine indigene Volksgruppe in Kolumbien. In der vorkolumbianischen Zeit besiedelten sie die zentrale Andenkette im Gebiet der heutigen Departements Huila, Quindío und Tolima, den Oberlauf des Magdalena und den Oberlauf des Cauca.

Auch ElPollo ist aus den Anden gekommen. Er kniet neben seiner Kampfjacke mit Gewehr, Pistole, Magazinen, Handgranaten, einem Löffel und ein paar in einen Schlüsselanhänger aus Plastik eingeschweißten Fotos von Leuten, die nicht mehr leben. Dabei denkt ElPollo an seine kleine Heimatstadt, die zwischen zwei der drei Bergketten liegt, in die sich die Anden gleich hinter der kolumbianischen Grenze teilen. Er denkt an die Straßen, an die Schule. Er denkt an sein Stadtviertel, “wo nur ganz schlimme Leute leben”, er denkt an Kirchen, an den Fluss, Gebäude und Gassen. ElPollo denkt an Neiva.

–Jeder hat ein vorherbestimmtes Schicksal, das Schicksal macht einen zu dem, was man ist, das ist mir im Leben klar geworden, man wird für etwas Bestimmtes geboren und das tritt dann auch ein. Woher sollte ich sonst in einer Stadt wie Neivain Kontakt mit den FARC gekommen sein? Alles hängt zusammen, alles hat sich genau so ergeben, dass ich hier gelandet bin. Eigentlich wollte ich Psychologe werden, aber das war nicht möglich. Als ich dreizehn war, bin ich in die Berge gegangen. Die wollten mich aber gar nicht nehmen, weil ich noch so jung war. Am Ende haben sie mich aber doch genommen. So bin ich hier groß geworden, ich bin zum Mann geworden, nach Hause bin ich nie wieder gekommen. Mein Schicksal war es, Guerillakämpfer zu werden, und so ist es gekommen. Ich bin Guerillakämpfer in der 1. Kompanie Sonia La Pilosa in der mobilen Kolonne Teófilo Forero.*. [ SIC]

Die mobile Kolonne Teófilo Forero gilt als Eliteeinheit des östlichen Blocks der FARC. 1993 wurde sie ursprünglich als Leibwache für die FARC-Führung gegründet. Im Laufe der Zeit wurde sie jedoch zunehmend zu Kampfeinsätzen herangezogen. Nach Angaben der kolumbianischen Justizbehörden war sie an zahlreichen spekatkulären Aktionen maßgeblich beteiligt, so an dem Bpmbenanschlag auf den Club ElNogal in Bogotá und an der Entführung von Parlamentsabgeordneten aus dem Departement Cauca.
ElPollo hat schon unzählige Male aus seiner Waffe geschossen. Er hat seine Freunde im Kugelhagel sterben sehen, er hat Geiseln bewacht, die ihm Geld, einen Ausweis und ein neues Leben im Ausland angeboten haben. Er hat Minen verlegt und ist durch die Berge gekrochen, während von oben ein Feuerregen niederging. Als er kam, war er noch ein Kind, ein aufsässiges Problemkind; dreizehn Jahre ist das nun her.

In den 90er Jahren brachte der Handel mit Tropenhölzern neuen Wohlstand und neue Abenteurer in das Tiefland von Yarí. Aber es kamen auch die anderen, “die aus den Bergen”, wie María und ihre Angehörigen die Guerillakämpfer auch heute noch nennen. Die FARC kamen, legten neue Wege an und griffen in den Alltag der Yaguaras ein:sie schlichteten Streitigkeiten über die Nutzung von Ressourcen, sprachen Verbote aus, verhängten Strafen und regelten das Zusammenleben. Aber mit den FARC kamen auch die Armee, die Gefechte, die Bombenangriffe, die Vorschriften und Intrigen, die die Unbewaffneten zwingen, ihr Mäntelchen nach dem Wind zu hängen und sich den Bewaffneten, die sie mal einluden und mal anklagten, anzunähern oder sich von ihnen fernzuhalten.

Im Jahr 1997 wurde die entmilitarisierte Zone als Schauplatz der Verhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung unter Präsident Pastrana und den damaligen FARC eingerichtet.Ohne jede Rücksprache mit der Bevölkerung wurdeYaguará II den Gebieten zugeschlagen, aus denen die Armee sich zurückzog. Zunächst kehrte dadurch die von der Guerilla verordnete Ruhe zurück, aber nach dem abrupten Ende der Dialoge im Jahr 2002 kam der Rückeroberungsfeldzug der Regierungstruppen und damit eine neuerliche Zeit großer Anspannung für die Anwohner. Die Kontrollen wurden häufiger und die Vorwürfe seitens der Guerilla wie der Armee richteten sich gegen die Yaguaras.Ohne nähere Erklärung kam im Jahr 2004 die Vertreibung*, und die Menschen mussten Hals über Kopf flüchten.

Die entmilitarisierte Zone wurde von der kolumbianischen Regierung unter Präsident Andrés Pastrana eingerichtet, um dort Friedensverhandlungen mit den FARC durchzuführen. Die Zone umfasste fünf Landkreise aus zwei Departements und bestand von 1999 bis 2002. Nach der Entführung eines Flugzeugs und der Geiselnahme eines an Bord befindlichen Senators wurden die Verhandlungen abgebrochen und die entmilitarisierte Zone wieder aufgehoben.
Im Jahr 2004 vertrieben Angehörige der FARC nach dem Verschwinden des Gouverneurs, des höchsten Beamten des Reservats, mehrere Familien. Nach Auskunft von María handelt es sich dabei um 80% der Bewohner des Reservats.

“Die aus den Bergen” haben uns bis heute nicht erklärt, warum sie uns von einem Augenblick auf den anderen verjagt haben. Sie haben uns zusammengerufen und zu uns gesagt: Passt mal auf, wenn ihr nicht mit uns zusammenarbeiten wollt, wenn ihr gegen uns seid, dann verschwindet lieber. Sie haben in die Ferne gezeigt, auf den Horizont,sie haben gesagt, wir sollten abhauen.Sie haben uns vertrieben, sie haben uns unseren Gouverneur weggenommen und bis heute weiß niemand, wo er ist. Wir haben auch junge Leute aus unserer Gemeinschaft verloren, die sich ihnen angeschlossen haben. Die haben sie schön beschissen, deshalb hatten die ja auch so einen Hass auf uns aus dem Reservat; wir wollten nicht, dass Leute aus unserer Familie zu denen gehen. Die haben gesagt: Wir bilden die nur aus, damit sie auf euch und auf das Reservat aufpassen können, wir nehmen sie nicht mit. Aber sie haben sie doch mitgenommen und jetzt weiß keiner, wo sie sind. Ricardo ist weg, Alberto, Mariluz, Hilda ist weg, Janet ist weg, und noch mehr sind mitgegangen, aber ein paar sind auch wieder abgehauen und zurückgekommen…

María scheint in Gedanken eine Liste ihrer Angehörigen zu machen, die in San Vicente del Caguán leben, die nach der abenteuerlichen “Zivilisierung des Urwalds” nachTolima zurückgekehrt sind, die sich in Villavicencio aufhalten, die – wie ihre Tochter – nach der Vertreibung ihr Glück in Bogotá versucht haben. Sie denkt an die ganz Jungen, die heute vielleicht das FARC-Abzeichen tragen. Sie fragt sich, ob diese nach der Entwaffnung wohl in ihre Gemeinschaft zurückkehren werden, sie fragt sich, ohne eine Antwort zu erhalten, ob diese Kinder, die nur gelernt hatten, Maniok anzubauen, im Krieg wohl wussten, was sie tun sollten. Währenddessen denkt auch ElPolloan Kinder, und er denkt daran, wie er selbst von anderen gelernt hat, sich im Kugelhagel in den Bergen richtig zu verhalten.

Es gab eine Zeit, als ich ein Junge war, wo sich die Soldaten fragten, wie wir es eigentlich anstellten, gegen sie zu kämpfen, wo wir doch noch so jung waren und sie waren schon seit 20 oder 25 Jahren Soldaten. Dazu braucht man militärische Disziplin, und die haben wir gelernt und im Guerillakrieg eingesetzt. Und damit bin ich aufgewachsen, ich bin durch den militärischen Drill zum Mann geworden.Als der Krieg am härtesten war, haben sie 10.000 Mann auf uns in der Teófilo angesetzt. Da haben wir uns verstreut und sind so auf sie losgegangen, und zwar so sehr, dass sie uns nie klein gekriegt haben. Das lag an dieser Taktik und an den Minen, die wir ausgelegt haben.
Das sagt ElPollo, während er an seine Kindheit nach Neiva denkt. Er erinnert sich gut an die Zeiten, die andere nur aus den Schlagzeilen der Zeitungen und aus den Nachrichten kennen, die Zeit, “als der Krieg am härtesten war”, wie er die Jahre der spektakulärsten Aktionen der Teófilo und des Beginns des Kriegsplans “Schwert der Ehre” nennt, als die Regierungstruppen ihre Strategie umstellten, um die Einheiten der FARC zu vernichten. Die gnadenlosen Angriffe auf die Teófilo zwangen diese zum Rückzug in die schwer zugänglichen Gebiete von Putumayo, MetaundGuaviare.

– Wenn du mit der Taschenlampe geleuchtet hast, hat der Flieger dich entdeckt. Wenn du nach oben geschaut hast, hat der Flieger dich entdeckt. Wenn du das Radio angeschaltet hast, haben sie das Signal geortet. Wenn du nachts eine Kerze angezündet hast, haben sie dich entdeckt. Im Krieg konnten wir tagsüber keine Wäsche raushängen, denn die hätten sogar eine Militärkappe entdeckt. Am Tag haben sie den Rauch entdeckt, die bunte Kleidung, alles haben sie entdeckt und dann beschossen.

Während ElPollovon seinen Erinnerungen erzählt, hält er eine Mine* in den Händen, einen kleinen Gegenstand, der inmitten seiner anderen industriell hergestellten Waffen, von denen mehrere als Eigentum der kolumbianischen Streitkräfte ausgewiesen sind, beinahe wie ein Spielzeug wirkt.

Laut dem Nationalglossar für Terminologie zur integralen Aktion gegen Antipersonenminen versteht man unter Antipersonenminen Minen, die geschaffen sind, um bei Anwesenheit, Nähe oder Kontakt mit einem Menschen zu explodieren und die die Sprengkraft besitzen, um einen oder mehrere Menschen handlungsunfähig zu machen, zu verletzen oder zu töten. +Mehr Info

Das Wichtigste ist die Batterie, wenn sie gut verschlossen ist, hält sie drei Jahre, ohne sich zu entladen, die hält ewig. Sie schläft nicht, sie isst nichts, sie wird nicht unaufmerksam. Die Mine ist immer wach, während der Mensch von Zeit zu Zeit ausruhen muss. Das war ein kluger Kopf, der sich das ausgedacht hat, ich weiß nicht, wie er heißt, aber ich weiß, dass er sich das ausgedacht und der ganzen Guerilla im ganzen Land beigebracht hat.

ElPollohält immer noch die faustgroße Mine in der Hand. Er betrachtet sie aufmerksam und rollt die beiden einen Meter langen Kabel, die an ihr herabhängen, sorgfältig zusammen.

Ich glaube, alle, die Minen haben, müssen sagen, wo sie sind, damit man sie rausholen kann. Wenn ich drankomme, muss ich auch hingehen, um sie wieder rauszuholen. Bisher habe ich noch keine von meinen 80 Minen verloren. Mehr sind es nicht, und ich habe alle genau im Kopf. Meine sind ja nicht so viele. Andere haben 400, 500, 600, andere haben ganze Landstriche voller Minen. Ich habe auch gelernt, wie man Minen fabriziert. Wir haben 1000, 2000 Minen hergestellt und abgegeben. Am nächsten Tag mussten wir wieder neue herstellen. Im Krieg sind viele Minen hergestellt worden und ganz besonders bei uns. Wir wurden ja schlimm verfolgt, da haben wir natürlich jede Menge Minen ausgelegt, um die Verfolger aufzuhalten. Wir haben auch Bomben vergraben, wir haben Sprengstoff vergraben, tonnenweise Sprengstoff. Und wozu das Ganze? Für den Krieg.

Dreizehn Jahre lang, die Hälfte seines Lebens, bestand das Leben von ElPolloaus Urwald, improvisierten Hütten, Kameraden, Ausrüstung, Gefecht, Auftrag, Flucht. ElPollo kennt die Pfade durch den Urwald, und auf seinem Weg hat er Spuren hinterlassen: den Tod der eigenen Leute und der anderen; er hat mit seinen Spielzeugen, die niemals schlafen und immer achtsam sind, ganze Felder bestückt.

La palabra cambuche se refiere a una vivienda improvisada y temporal construida con cualquier material que se disponga.

– Wir sind gar nicht so brutal, wie das immer gesagt wird. Wir wollen leben, genau wie die anderen. Die Mütter und die Familien von den anderen leiden, aber unsere auch. Deshalb wollen wir ja, dass der Krieg aufhört. Wir wollen kein Blutvergießen mehr. Das ist so entschieden und wird befolgt. Manchmal muss man gegen einen Soldaten kämpfen, und entweder der stirbt oder man selbst stirbt. Die Kugeln fliegen hin und her, die Soldaten bringen einen um oder man bringt die um. Aber das ist ja nicht, weil man das so will, sondern weil es nicht anders geht. Man bringt ja keinen aus Spaß am Töten um, so ist das nicht. So bin ich nicht, so sind wir nicht.

Auch María und ihre Angehörigen haben weite Wege zurückgelegt, seit sie Yaguará IIverlassen haben. In ihre Häuser aus Palmenstämmen und Rohr, die noch lange nach ihrer Flucht standen, zog eine neue Welle von Ankömmlingen ein. Es kamen andere Indigene*, diesmal waren es Nasa-Familien vomCauca, die von den verlassenen Gebieten Besitz ergriffen.

Im Jahr 2009 zogen indigene Siedler von der Ethnie der Nasa aus dem Departement Cauca in das Reservat Yaguará II.

– Vor Jahren haben wir Häuser hier im Dorf bekommen. Aber das ist nicht das Gleiche. Wir sollen anderes Land bekommen, aber das wollen wir auch nicht. Anderes Land, das so ist wie unseres, gibt es nirgendwo. Wir sind sehr froh über diese Verhandlungen, jetzt soll es ja endlich Frieden geben. Ich verstehe nicht viel davon, ich sehe die Nachrichten, ich sehe viel fern und höre jeden Tag Radio. Aber ich verstehe das nicht.Ich bin nicht zur Schule gegangen, und es wird ja so viel gesagt. Aber wir sind sehr froh, vielleicht können wir jetzt auf unser Land zurück. Wir sind sehr froh, wir wollen zurück.

Zurück, das sagt María. Wenn sie das Wort ausspricht, scheint sie ein Land zu sehen, wo sie und ihre Angehörigen wieder eine Gemeinschaft inmitten von Wald und Savanne bilden. WennElPollodas Wort “zurück” ausspricht, dann spricht er vom Haus seiner Mutter und seiner Schwestern, von den Straßen von Neiva, durch die er so lange geirrt ist. María träumt davon, mit ihren Angehörigen auf das Land zurückzukehren, wo heute andere leben. Das Haus der Mutter von ElPollo steht vielleicht schon längst nicht mehr dort, wo er es vor Jahren verlassen hat. María ist dankbar, aber sie möchte nicht, dass ihre Enkel auf einem Spielplatz aus Ziegelstein, weit entfernt von der Natur, herumtollen. ElPollo hat nicht miterlebt, wie sich der Fluss verändert hat, seitdem die Promenade angelegt wurde, auf der die Menschen heute spazieren gehen, er hat nicht gesehen, wie Hochhäuser entstanden sind, er ist nicht dem Sarg eines Onkels oder eines Freundes aus Kindertagen gefolgt.María will das Häuschen aus Zement und Ziegelstein, das der Staat ihr gegeben hat, nicht. ElPollo weiß, er ahnt, er wird bald keine Bleibe mehr haben.

Zurück. Aber wohin? Auf das Land, das ihr nicht mehr gehört, zu den Menschen, die nicht mehr da sind. Es gibt kein Zurück, es gibt keinen Rückweg, was geschehen ist, lässt sich nicht rückgängig machen. Der einzige Weg führt vorwärts. Dort steht ein Heim für sie und ihre Enkel, dort ist die Tochter, die ElPollo einmal haben wird. Dort kann man jagen und fischen, auch wenn es anderes Land ist, auch wenn es andere Flüsse sind. Dort kann man die Ausbildung zum Psychologen machen, so wie die schöne Frau in der Schulzeit von ElPollo, oder zum Zahnarzt, schließlich ist er schon seit einem Jahr darin geübt, den anderen Guerillakämpfern im Urwald Zähne zu ziehen. Dort ist die Zukunft, die sie sich noch gar nicht vorstellen können.Dort wartet die Zukunft auf sie, die Zukunft muss erst noch kommen. Vorwärts, es gibt keinen anderen Weg.

– Nicht einen Schritt zurück.

María geht lächelnd weiter und verliert sich in der Menschenmenge auf dem Platz von San Vicente del Caguán. Und ElPollositzt wahrscheinlich gerade in einem Lager inmitten von Urwald und wetzt sein Messer an einem Holzblock, während er darauf wartet, endgültig seine Waffen abgeben zu können.