Erinnerungen eines Arbeiters ohne Land
27/01/2018 Tag D +422
Ort
Caño Indio
Kreis
Tibú
Departement
Norte de Santander
Ich bin kein Gutsbesitzer, ich bin Arbeiter, aber als Arbeiter steht man natürlich auf der Seite des Gutsbesitzers. Wenn es diesem gut geht, hat man wenigstens Arbeit. Mit dem Kokaanbau war es für uns leichter, unser Auskommen zu haben, und die Arbeit war auch weniger anstrengend. Man kann nicht sagen, dass unser Leben völlig anders gewesen wäre, aber es ging uns schon ein wenig besser, und es gab Geld.
Mit dem Drogenhandel hatten wir nichts zu tun. Wir haben nur die Pflanzen geerntet. Das große Geld haben andere verdient. Zu uns kam immer derselbe Typ, einer mit viel Geld, und dann mussten wir alle anpacken, er hat alles mitgenommen und uns ein Almosen gezahlt, und wir waren damit glücklich. Von dieser Arbeit haben wir alle gelebt.
Ich bin jetzt 55 Jahre alt und habe vieles gesehen. Zum Beispiel den “Plan Colombia” 1, den Álvaro Uribe Vélez verfolgte. Damals hat man uns gesagt, es würde bald keine Armen mehr geben, und beinahe wäre das auch gelungen, aber nur, indem wir alle umgebracht worden wären. Denn zu uns sind sie nur zum Massakrieren und zum Foltern gekommen. Deshalb mussten wir alle fliehen, ob man wollte oder nicht. Bei uns im Dorf war es besonders schlimm, denn bei uns waren angeblich sogar die Hühner Guerillaangehörige. Damals ließen sich die Guerillakämpfer zwar immer wieder blicken, aber man kann nicht sagen, das ganze Dorf hätte zur Guerilla gehört.
Die Gutsbesitzer haben zwar Geld erhalten, aber das werden sie für ihre eigenen Bedürfnisse verwenden und nicht an die Landarbeiter weitergeben. Denn mit diesem Geld wird Caño Indio nicht reich, und auch die Gutsbesitzer nicht, hier müssen wir ja alle bei Null anfangen: Ich kann nur immer wiederholen, hier gibt es nichts, das hier ist wie eine Wüste, denn hier gab es schon früher nur die Kokapflanzen und sonst nichts.
Ich fälle die Bäume und dann kommen die anderen Arbeiter und setzen das Land in Brand, so dass man schließlich aussäen kann 6. Derjenige, der gerade den Baum dort fällt, ist mein Sohn. Aber das Holz, das wir schlagen, überlassen wir nicht den Flammen. Wir verkaufen es. Das ist ja gutes Brennholz, warum sollten wir es verschwenden. Entweder wir verbrennen es und verkaufen die Kohle, oder wir verkaufen das Holz selbst. Das hilft uns dabei, unser Auskommen zu haben. Davon kann man zwar nicht leben, aber es ist eine Hilfe. Ich hoffe nur, dass wir irgendwann einmal von einer Behörde, dem ICA oder Corponor 7, die Genehmigung bekommen, um das gefällte Holz zu verkaufen. Denn wenn ich das Holz wegschaffe und erwischt werde, komme ich ins Gefängnis. Als hätte ich es gestohlen, als wäre das ein Verbrechen. Und das stimmt ja nicht, es ist meine Arbeit.
Hier in Caño Indio hat jeder seine eigene Geschichte. Was uns hier am meisten Sorge bereitet, ist die Zukunft der jungen Leute. Wovon sollen sie leben? Es gibt hier ja nichts, es gibt keine Arbeit, es gibt keine Perspektiven. Ich habe immerhin eine Idee im Kopf. Ich habe ein Projekt. Meine Idee besteht in einer landwirtschaftlichen Genossenschaft, die aus Arbeitern gebildet ist. Dort könnten Studenten drei Stunden in der Woche die Tiere und Pflanzen untersuchen. Auf diese Weise könnte aus der Genossenschaft einmal ein Diplom-Landwirt hervorgehen. Und die Genossenschaft könnte Saatgut produzieren und in den Dörfern verkaufen. Das würde Arbeitsplätze schaffen und wir müssten nicht mehr so weit fahren, um an Saatgut zu kommen.
Als wir jetzt die Vereinbarungen unterschrieben haben – auch ich habe als Arbeiter unterschrieben – haben wir uns verpflichtet, nichts Illegales mehr zu machen. Keine verbotenen Pflanzen, nichts dergleichen. Aber es ist doch klar, wenn wir jetzt überhaupt keine Unterstützung bekommen, dann sind wir die zukünftigen Kokabauern. Klar, dann können wir ins Gefängnis kommen, fünfzig Jahre, hundert Jahre, lebenslänglich. Aber was riskiert man nicht alles, wenn man sonst Not leidet?
Anmerkungen
1 Bei dem “Plan Colombia” handelt es sich um ein US-Programm zur technischen und militärischen Unterstützung Kolumbiens mit dem Ziel der Beseitigung des Drogenhandels, der Stärkung der Justiz und der Institutionen sowie der Niederschlagung der Guerillaorganisationen. Der sehr umstrittene Plan umfasste die Besprühung von Feldern und kolumbianischen Bauern aus der Luft mit dem Wirkstoff Glyphosat sowie den massiven Ausbau der militärischen Kapazitäten der Regierungstruppen. Einige vertreten die Auffassung, durch die Umsetzung des Plans über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren hinweg sei es gelungen, Kolumbien zu einem funktionierenden Staatswesen zu machen. Andere sind dagegen der Ansicht, dass das Programm zu Menschenrechtsverletzungen, Umweltschäden und einer gefährlichen Aufsplitterung der Drogenkartelle geführt habe. Daneben kam es infolge der Aktivitäten von paramilitärischen Gruppen, Regierungstruppen und Guerillaorganisationen in Verbindung mit der Besprühung der landwirtschaftlichen Anbauflächen zu einer erheblichen Zunahme der Zahl der Binnenvertriebenen.
2 Die Ausdrücke “Paras” oder “Paramilitärs” bezeichnen ursprünglich rechtsradikale Gewaltgruppen, die zur Bekämpfung der linksgerichteten Guerillaorganisationen gegründet wurden, sich aber im Laufe der Zeit immer mehr verselbständigten und in kriminelle Banden verwandelten, die ausschließlich der Anhäufung von Landbesitz und politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht sowie in zunehmendem Maße auch dem Drogenhandel dienten. Nach Angaben des Nationalen Zentrums für Historisches Gedenken waren in der Region Catatumbo, in der der Ort Caño Indio liegt, drei paramilitärische Verbände aktiv: Bloque Catatumbo, Frente Héctor Julio Peinado und Frente Resistencia Motilona. Die Gruppen verbreiteten Angst und Schrecken und führten zu einer Umwandlung der Landnutzungs- und Grundbesitzverhältnisse.
3 Der paramilitärische Verband Bloque Catatumbo wurde 2004 aufgelöst. 2006 folgten die Einheiten Frente Héctor Julio Peinado und Frente Resistencia Motilona.
4 Seit Mai 2007 wird das Im Friedensschluss von Havanna zwischen kolumbianischer Regierung und FARC-Guerilla vorgesehene Programm zur Ersetzung illegaler Anbauflächen umgesetzt. Dabei verpflichten sich die Bauernfamilien, keine neuen Kokasträucher anzupflanzen und sich nicht an Arbeiten im Zusammenhang mit dem Anbau und der Verarbeitung von Koka zu beteiligen. Im Gegenzug erhalten sie ein Jahr lang eine monatliche Ausgleichszahlung, eine Beihilfe zur Einrichtung von Anbauflächen zur Selbstversorgung sowie technische Betreuung.
5 Nach Angaben der Vereinten Nationen war der Landkreis Tibú, zu dem der Ort Caño Indio gehört, im Jahr 2016 der Kreis mit der zweitgrößten Kokaanbaufläche (12.787 ha) in Kolumbien. In Caño Indio, wo sich eins der Sammellager zur Entwaffnung der FARC-Angehörigen befindet, wurde die Ersetzung der illegalen Anbauflächen im Rahmen eines Pilotprojekts zügig in Angriff genommen.
6 Es handelt sich hier um eine traditionelle Anbaumethode in waldreichen Gebieten. Dabei werden zunächst die Bäume gefällt. Anschließend werden die entstandenen Lichtungen in Brand gesteckt, damit die Asche den Boden fruchtbar macht. Wenn der Boden ausgelaugt ist, wird das gleiche Verfahren an anderer Stelle wiederholt. Auf diese Weise werden große Waldflächen vernichtet. Daneben tragen auch große Kraftwerksprojekte, Bergbau und Holzindustrie zur Entwaldung bei.
7 CORPONOR (Autonome Regionalbehörde Grenzgebiet Nordost): Umweltbehörde der Provinz Norte de Santander. ICA (Kolumbianisches Institut für Landwirtschaft): Nationale Behörde für landwirtschaftliche und Ernährungsangelegenheiten.