Ich, ein Arbeiter

Erinnerungen eines Arbeiters ohne Land

27/01/2018 Tag D +422

Caño Indio

Kreis

Tibú

Departement

Norte de Santander

Ich heiße Oscar. Ich komme aus einem Dorf namens Gramalote, ich stamme aus einer einfachen Arbeiterfamilie. Es ist schon sehr lange her, dass ich hierher, nach Caño Indio in der Region Catatumbo gekommen bin; das war noch, bevor es den Kokaanbau gab. Damals haben die Menschen Wald gerodet, um Holz zu verkaufen oder Sesam anzubauen. Viel Geld konnte man damit aber nicht verdienen. Deshalb sind später so viele Gutsbesitzer auf Kokaanbau umgestiegen.

Ich bin kein Gutsbesitzer, ich bin Arbeiter, aber als Arbeiter steht man natürlich auf der Seite des Gutsbesitzers. Wenn es diesem gut geht, hat man wenigstens Arbeit. Mit dem Kokaanbau war es für uns leichter, unser Auskommen zu haben, und die Arbeit war auch weniger anstrengend. Man kann nicht sagen, dass unser Leben völlig anders gewesen wäre, aber es ging uns schon ein wenig besser, und es gab Geld.

Jetzt arbeite ich als Holzfäller. Die Lage zwingt mich dazu; am liebsten würde ich keine Bäume fällen, denn ich weiß, wie schädlich das ist. Und außerdem bringt das kaum etwas ein, denn man muss unterwegs ständig Schmiergelder zahlen. Hier gibt es ja kein Gesetz, es gibt nichts, es ist unmöglich, eine Genehmigung einzuholen, einen Gewerbeschein, um das Holz zu verkaufen.

Hier gab es früher nur Berge und Wege, sonst nichts. Den Rohzucker und das Salz mussten wir zu Fuß von Vetas oder vom Aussichtspunkt aus hierher schleppen. Das Holz haben wir flussabwärts treiben lassen und es dort aus dem Fluss gezogen, wo es nicht mehr weit bis zur Landstraße war. Als der Kokaanbau begann, wurde das Maultier das wichtigste Transportmittel. Für Benzin, Dünger, Lebensmittel. Die Kokapflanze war unsere Mutter. Wir sind dadurch zwar nicht reich geworden, und auch unser Arbeitgeber nicht. Aber wir hatten wenigstens eine feste Arbeit. Millionär ist hier niemand geworden, das ist eine dreiste Lüge. Aber der Kokaanbau hat viele Arbeitsplätze geschaffen, weil die Kokaherstellung ein komplexer Prozess mit vielen einzelnen Zwischenschritten ist. Und der Handel ebenfalls. Wenn einem die Lebensmittel ausgegangen sind, konnte man irgendwo in ein Geschäft gehen und anschreiben lassen und das Problem war gelöst. Heute gibt einem niemand mehr Kredit, nicht einmal für ein bisschen Zucker oder ein Kilo Reis. Wie auch; die Händler wissen ja, dass man nichts hat und nur hoffen kann, irgendeine Art von Beihilfe von der Regierung zu bekommen.

Mit dem Drogenhandel hatten wir nichts zu tun. Wir haben nur die Pflanzen geerntet. Das große Geld haben andere verdient. Zu uns kam immer derselbe Typ, einer mit viel Geld, und dann mussten wir alle anpacken, er hat alles mitgenommen und uns ein Almosen gezahlt, und wir waren damit glücklich. Von dieser Arbeit haben wir alle gelebt.

Ich bin jetzt 55 Jahre alt und habe vieles gesehen. Zum Beispiel den “Plan Colombia” 1, den Álvaro Uribe Vélez verfolgte. Damals hat man uns gesagt, es würde bald keine Armen mehr geben, und beinahe wäre das auch gelungen, aber nur, indem wir alle umgebracht worden wären. Denn zu uns sind sie nur zum Massakrieren und zum Foltern gekommen. Deshalb mussten wir alle fliehen, ob man wollte oder nicht. Bei uns im Dorf war es besonders schlimm, denn bei uns waren angeblich sogar die Hühner Guerillaangehörige. Damals ließen sich die Guerillakämpfer zwar immer wieder blicken, aber man kann nicht sagen, das ganze Dorf hätte zur Guerilla gehört.

Ich bin einer der Binnenvertriebenen von damals; aber von der Regierung habe ich nie auch nur ein Kilo Reis bekommen. Denn wenn man sich als Binnenvertriebener verzeichnen lassen wollte, musste man die Daten angeben und manchmal sind sie dann zu einem nach Hause gekommen und haben einen umgebracht. Deshalb habe ich auch keinen Ausweis als Binnenvertriebener.

Das alles war in der Zeit, als die Paras 2 kamen und gleichzeitig die FARC hier war. Trotzdem blieb ich ruhig, ich war ja niemandem etwas schuldig. Ich arbeitete bei einer evangelischen Familie, und die sagten immer: Wir vertrauen auf Gottes Wort; der Herr wird uns kein Unheil geschehen lassen. Auch als alle weggegangen sind, sind sie hier geblieben und sie haben mich aufgefordert, ebenfalls zu bleiben. Das war genau da, wo jetzt das Sammellager für die FARC-Angehörigen steht, wo jetzt deren Häuschen stehen. Einmal sollte ich verschiedene Materialien wegbringen: Benzin, Öl, Treibstoff und Zement. Als ich nach der ersten Fuhre zurückkam, waren schon zwei Paras in der Hütte und zwei in der Küche. Als ich sie sah, machte ich kehrt und lief davon, aber sie hatten mich schon gesehen und liefen mir nach. Sie verfolgten mich mit einem Hund, aber ich entwischte ihnen. Da hörte ich auch schon die Schüsse und die Schreie der anderen Leute, das waren die Evangelischen. Sie wurden alle umgebracht. Ich versteckte mich im Gebirge und schlief dort; zu Fuß erreichte ich schließlich die Stadt Cúcuta.

Diese Zeit war ganz schlimm. Wenn man so etwas erlebt, dann weiß man, was Angst ist und was Terror ist.

Später kam ich zurück, denn die Lage hatte sich wieder beruhigt; und heute, mit der Entwaffnung 3 und dem Friedensprozess, ist es viel besser geworden. Und genau von dort, wo jetzt das Sammellager (für die ehemaligen FARC-Kämpfer) ist, bin ich damals weggelaufen, und deshalb freue ich mich, dass da jetzt Häuser stehen und Menschen wohnen. Und mein Sohn ist jetzt bei mir, er spielt mit denen Fußball und hat dort Freunde. Ich erzähle denen meine Geschichte, und meinem Sohn sage ich: Schau mal, genau von hier bin ich damals geflohen, jetzt sieh dir an, wie das heute aussieht, siehst du, wie sich das verändert hat? Das freut einen, es ist doch nicht alles verloren, die Waffen schweigen jetzt und man kann wieder halbwegs normal hier leben.

Mit dem Frieden ging es auch los mit dem Ausreißen der Kokapflanzen 4. Denn wenn die Pflanzungen ein Faktor waren, der den Frieden gefährdete, dann gab es nur eins: weg damit. Heute setzen alle auf die Beseitigung des Kokaanbaus. Aber der Frieden ist nicht alles, er muss den Menschen auch etwas bringen, zumindest etwas zu essen, denn im Augenblick gibt es hier keine Arbeit und die Erwartungen sind sehr hoch. Wir Arbeiter leben weiter wie Vertriebene, denn ohne die Kokapflanzen gibt es hier keine Arbeit.

Uns wurde gesagt, im Rahmen der Ersetzung (des Kokaanbaus) würde jeder von uns monatlich eine Million Pesos bekommen. Als eine Art Beihilfe, denn es war ja vorauszusehen, dass wir hier keine Arbeit mehr finden würden. Angeblich sollten verdiente Arbeiter auch ein Stück Land bekommen, aber bis jetzt habe ich davon noch nichts gesehen und langsam mache ich mir Sorgen.

Die Gutsbesitzer haben zwar Geld erhalten, aber das werden sie für ihre eigenen Bedürfnisse verwenden und nicht an die Landarbeiter weitergeben. Denn mit diesem Geld wird Caño Indio nicht reich, und auch die Gutsbesitzer nicht, hier müssen wir ja alle bei Null anfangen: Ich kann nur immer wiederholen, hier gibt es nichts, das hier ist wie eine Wüste, denn hier gab es schon früher nur die Kokapflanzen und sonst nichts.

Im Augenblick sind alle fleißig damit beschäftigt, die Pflanzen auszureißen, alle geben sich große Mühe. Und das ist schon ein Verzicht, denn das wegzuwerfen, was einen bis dahin ernährt hat, das fällt einem schwer und riskant ist es auch. Denn als Gegenleistung gibt es nur etwas, was irgendwo in einem Papier steht, und was bisher nicht erfüllt worden ist.5

Wo früher Kokapflanzen angebaut wurden, legen die Gutsbesitzer jetzt Weideland an oder kleine Nutzflächen für die Selbstversorgung. Aber das bedeutet, dass immer mehr Wald gerodet werden muss, denn dort, wo früher die Kokapflanzen standen, wächst heute vielleicht noch Gras, aber sonst auch nichts. Da sind nur Stoppelfelder übrig geblieben, das hat der Staat gemacht, als die Pflanzungen mit Glyphosat besprüht wurden, das ist heute eine Art Wüste. Früher konnte man wenigstens Sesam oder Reis anpflanzen, damit ist es jetzt vorbei. Der Boden gibt das nicht her. Deshalb wird jetzt überall Wald gerodet, um neue Felder anzulegen. Das ist jetzt meine Arbeit als Holzfäller.

Ich fälle die Bäume und dann kommen die anderen Arbeiter und setzen das Land in Brand, so dass man schließlich aussäen kann 6. Derjenige, der gerade den Baum dort fällt, ist mein Sohn. Aber das Holz, das wir schlagen, überlassen wir nicht den Flammen. Wir verkaufen es. Das ist ja gutes Brennholz, warum sollten wir es verschwenden. Entweder wir verbrennen es und verkaufen die Kohle, oder wir verkaufen das Holz selbst. Das hilft uns dabei, unser Auskommen zu haben. Davon kann man zwar nicht leben, aber es ist eine Hilfe. Ich hoffe nur, dass wir irgendwann einmal von einer Behörde, dem ICA oder Corponor 7, die Genehmigung bekommen, um das gefällte Holz zu verkaufen. Denn wenn ich das Holz wegschaffe und erwischt werde, komme ich ins Gefängnis. Als hätte ich es gestohlen, als wäre das ein Verbrechen. Und das stimmt ja nicht, es ist meine Arbeit.

Jetzt arbeite ich hier und muss aber noch drei Monate warten, bis ich für das verkaufte Holz fünfhunderttausend Pesos bekomme. Der Mann, der mir das Holz abnimmt, zahlt nicht sofort. Wenn er es weiterverkauft hat, kommt er und zahlt mir mein Geld. Es ist mir schon klar, dass er mit meinem Geld arbeitet, dass er mit meiner Arbeit arbeitet und ich erstmal leer ausgehe. Das ist ja gerade die ständige Sorge, das ist die Ungewissheit. Das liegt daran, dass es hier nicht genug Arbeit gibt, das ist schon schwer.

Hier in Caño Indio hat jeder seine eigene Geschichte. Was uns hier am meisten Sorge bereitet, ist die Zukunft der jungen Leute. Wovon sollen sie leben? Es gibt hier ja nichts, es gibt keine Arbeit, es gibt keine Perspektiven. Ich habe immerhin eine Idee im Kopf. Ich habe ein Projekt. Meine Idee besteht in einer landwirtschaftlichen Genossenschaft, die aus Arbeitern gebildet ist. Dort könnten Studenten drei Stunden in der Woche die Tiere und Pflanzen untersuchen. Auf diese Weise könnte aus der Genossenschaft einmal ein Diplom-Landwirt hervorgehen. Und die Genossenschaft könnte Saatgut produzieren und in den Dörfern verkaufen. Das würde Arbeitsplätze schaffen und wir müssten nicht mehr so weit fahren, um an Saatgut zu kommen.

Als wir jetzt die Vereinbarungen unterschrieben haben – auch ich habe als Arbeiter unterschrieben – haben wir uns verpflichtet, nichts Illegales mehr zu machen. Keine verbotenen Pflanzen, nichts dergleichen. Aber es ist doch klar, wenn wir jetzt überhaupt keine Unterstützung bekommen, dann sind wir die zukünftigen Kokabauern. Klar, dann können wir ins Gefängnis kommen, fünfzig Jahre, hundert Jahre, lebenslänglich. Aber was riskiert man nicht alles, wenn man sonst Not leidet?

Der Arbeiter arbeitet ja für alle. Für den Gutsbesitzer, für die Regierung, für die Guerillaorganisationen, für die Mafia. Der Arbeiter hat nichts, weder Land noch sonst etwas. Er wird nur von allen ausgesaugt. Er hat keine Perspektiven, er hat nichts.

Mit 55 Jahren bin ich immer noch sehr aktiv. Aber die Kräfte lassen nach. Wenn man dieses Alter erreicht hat und weiß, dass man als einfacher Arbeiter sterben wird, dann kann man nichts machen. Aber das dürfte nicht so sein. Denn wenn man Ideen hat und eine gewisse Unterstützung bekommt, dann kann man es zu etwas bringen. Aber hier ist ja alles völlig verwahrlost.

Als Kolumbianer weiß ich nicht, ich habe nie etwas bekommen, mir hat nie jemand etwas gegeben. Hier in Caño Indio ist erst jetzt die Landstraße repariert worden. Aber es gibt keinen Strom, kein Wasser, keine vernünftige Schule. Wann soll das alles kommen? Wenn meine Kinder groß sind? Wenn meine Enkel groß sind? Wann?

Anmerkungen

1 Bei dem “Plan Colombia” handelt es sich um ein US-Programm zur technischen und militärischen Unterstützung Kolumbiens mit dem Ziel der Beseitigung des Drogenhandels, der Stärkung der Justiz und der Institutionen sowie der Niederschlagung der Guerillaorganisationen. Der sehr umstrittene Plan umfasste die Besprühung von Feldern und kolumbianischen Bauern aus der Luft mit dem Wirkstoff Glyphosat sowie den massiven Ausbau der militärischen Kapazitäten der Regierungstruppen. Einige vertreten die Auffassung, durch die Umsetzung des Plans über einen Zeitraum von fünfzehn Jahren hinweg sei es gelungen, Kolumbien zu einem funktionierenden Staatswesen zu machen. Andere sind dagegen der Ansicht, dass das Programm zu Menschenrechtsverletzungen, Umweltschäden und einer gefährlichen Aufsplitterung der Drogenkartelle geführt habe. Daneben kam es infolge der Aktivitäten von paramilitärischen Gruppen, Regierungstruppen und Guerillaorganisationen in Verbindung mit der Besprühung der landwirtschaftlichen Anbauflächen zu einer erheblichen Zunahme der Zahl der Binnenvertriebenen.

2 Die Ausdrücke “Paras” oder “Paramilitärs” bezeichnen ursprünglich rechtsradikale Gewaltgruppen, die zur Bekämpfung der linksgerichteten Guerillaorganisationen gegründet wurden, sich aber im Laufe der Zeit immer mehr verselbständigten und in kriminelle Banden verwandelten, die ausschließlich der Anhäufung von Landbesitz und politischer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Macht sowie in zunehmendem Maße auch dem Drogenhandel dienten. Nach Angaben des Nationalen Zentrums für Historisches Gedenken waren in der Region Catatumbo, in der der Ort Caño Indio liegt, drei paramilitärische Verbände aktiv: Bloque Catatumbo, Frente Héctor Julio Peinado und Frente Resistencia Motilona. Die Gruppen verbreiteten Angst und Schrecken und führten zu einer Umwandlung der Landnutzungs- und Grundbesitzverhältnisse.

3 Der paramilitärische Verband Bloque Catatumbo wurde 2004 aufgelöst. 2006 folgten die Einheiten Frente Héctor Julio Peinado und Frente Resistencia Motilona.

4 Seit Mai 2007 wird das Im Friedensschluss von Havanna zwischen kolumbianischer Regierung und FARC-Guerilla vorgesehene Programm zur Ersetzung illegaler Anbauflächen umgesetzt. Dabei verpflichten sich die Bauernfamilien, keine neuen Kokasträucher anzupflanzen und sich nicht an Arbeiten im Zusammenhang mit dem Anbau und der Verarbeitung von Koka zu beteiligen. Im Gegenzug erhalten sie ein Jahr lang eine monatliche Ausgleichszahlung, eine Beihilfe zur Einrichtung von Anbauflächen zur Selbstversorgung sowie technische Betreuung.

5 Nach Angaben der Vereinten Nationen war der Landkreis Tibú, zu dem der Ort Caño Indio gehört, im Jahr 2016 der Kreis mit der zweitgrößten Kokaanbaufläche (12.787 ha) in Kolumbien. In Caño Indio, wo sich eins der Sammellager zur Entwaffnung der FARC-Angehörigen befindet, wurde die Ersetzung der illegalen Anbauflächen im Rahmen eines Pilotprojekts zügig in Angriff genommen.

6 Es handelt sich hier um eine traditionelle Anbaumethode in waldreichen Gebieten. Dabei werden zunächst die Bäume gefällt. Anschließend werden die entstandenen Lichtungen in Brand gesteckt, damit die Asche den Boden fruchtbar macht. Wenn der Boden ausgelaugt ist, wird das gleiche Verfahren an anderer Stelle wiederholt. Auf diese Weise werden große Waldflächen vernichtet. Daneben tragen auch große Kraftwerksprojekte, Bergbau und Holzindustrie zur Entwaldung bei.

7 CORPONOR (Autonome Regionalbehörde Grenzgebiet Nordost): Umweltbehörde der Provinz Norte de Santander. ICA (Kolumbianisches Institut für Landwirtschaft): Nationale Behörde für landwirtschaftliche und Ernährungsangelegenheiten.