Alle unsere Toten

 

20/03/2018 Tag D +474

Bogotá D.C

Kreis

Bogotá D.C

Departement

Cundinamarca

 

Der Erste war Marcel. Danach wurde Maicol getötet. Der nächste Tote war Jair. In diesem Krieg, der nicht enden will, in dem die Kugeln aus allen Richtungen kommen und von Waffen unterschiedlichster Farben, die mit verschiedenen Fahnen geschmückt sind, abgeschossen werden, gehen die Marcels, Maicols und Jairs in die Tausende, ja in die Hunderttausende.

JAIR

Ich nannte José Jair Cortés immer nur den Einäugigen, aufgrund eines scherzhaften Telefonanrufs, der in den sozialen Netzwerken Verbreitung fand. Eine Stimme, die komisch klingen will, ruft mehrfach eine junge Frau an und gibt sich als “der Einäugige” aus. Da die junge Frau mit dieser Auskunft nichts anfangen kann und immer wieder nachfragt, wer denn da am Apparat sei, schreit der Anrufer immer wieder: “Der Einäugige, der Einäugige!” Unter schallendem Gelächter spielte uns Jair die Aufnahme immer wieder vor, während wir über die von Kokasträuchern gesäumten Wege im Tiefland von Alto Mira und Frontera in der Nähe der Grenze zu Ecuador fuhren.

Ein guter Teil des Territoriums, das nach langen Kämpfen den afrokolumbianischen Gemeinschaften des Hochlands als Kollektiveigentum zugesprochen wurde, wird von hellhäutigen Siedlern bewohnt, die auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen aus allen Teilen des Landes gekommen sind, um im Gebiet der Schwarzen Koka anzubauen. Der Kokaanbau ist einer der zentralen Punkte des Friedensabkommens zwischen der kolumbianischen Regierung und den FARC-EP. Die Kokasträucher sollen ausgerissen werden. Dabei handelt es sich allein in Tumaco um 23.000 Hektar Kokapflanzungen, die der Kokainherstellung dienen. Die Beseitigung der Pflanzungen soll auf zwei verschiedenen Wegen erfolgen. Einmal sind Scharen von Beamten unterwegs, die mit den Bauern freiwillige Vereinbarungen unterschreiben, in denen diese sich zur Ersetzung der Kokapflanzungen durch legale Anbauprodukte verpflichten. Und parallel dazu rückt das Heer in die Anbaugebiete ein. Mit der Waffe in der Hand reißen die Soldaten die Sträucher aus der Erde. Auch wenn die afrokolumbianischen Bevölkerungsgruppen, denen das Land gehört, die freiwilligen Vereinbarungen unterzeichnen, kommt es daher zum Krieg, wenn die zugezogenen Siedler nicht bereit sind, sich ebenfalls an der Umstellung zu beteiligen. Niemandem war dieses Dilemma so klar wie Jair.

Ich erinnere mich an Jair nicht nur so, wie meine Kamera ihn festgehalten hat. Ich erinnere mich daran, wie er neben seiner Ehefrau in der heimischen Küche wirkte. Ich erinnere mich daran, wie er mit seinen Kindern am Bach spielte. Ich erinnere mich auch, wie er auf dem Rücken die Bananen schleppte, die er nicht verkaufen konnte, weil es keine Möglichkeit gab, die Früchte vom Feld zu den potentiellen Kunden zu transportieren. Ich erinnere mich daran, wie er eine Kokosnuss öffnete und sich dabei mit seinem Neffen unterhielt.

Ich erinnere mich an seine Stimme am anderen Ende der Leitung:

-Hallo.

–Wissen Sie, mit wem Sie sprechen?

-…

-Mit dem Einäugigen!!!

–Einäugiger, du willst also wirklich hinfahren? Ich habe gehört, das Treffen der Kommunalverwaltung in Tumaco soll wegen der Drohungen unter Polizeischutz stattfinden.

-Nein, Einäugige, da fahre ich bestimmt nicht hin.

Am 5. Oktober 2017 protestierte eine große Gruppe von Kokabauern in der Ortschaft Tandil im Gebiet von Alto Mira und Frontera. Sie wollten die Soldaten daran hindern, ihre Pflanzen, ihr Geschäft, ihren Lebensunterhalt auszureißen. Am Ende lagen nicht nur ausgerissene Sträucher, sondern auch sechs Tote auf der Straße. Die Überlebenden berichteten, die Waffen von Polizisten hätten die Kugeln ausgespien.

Der Kommunalrat der Afrokolumbianer ist für die freiwillige Beseitigung des Kokaanbaus, für die Rückkehr zu den traditionellen Anbauprodukten und für das Leben, denn das Geschäft mit dem Kokain bedeutet immer auch Waffen, Macht und Gewalt. Auch Jair stand auf dieser Seite. Zwölf Tage nach dem Tod der Kokabauern in Tandil fiel auch der Einäugige der Gewalt zum Opfer.

Jairs Leichnam wurde auf einem der von der Gemeinschaft von Hand und mit der Machete angelegten Wege am Ufer des Rio Mira gefunden. Man sagt, es sei nachmittags um Viertel nach vier in der Nähe der Ortschaft Restrepo geschehen. Man sagt, wie um eigenes Verschulden anzudeuten, er habe der für seinen Personenschutz zuständigen Polizeieinheit nicht mitgeteilt, dass er seine Angehörigen in dem Ort besuchen wolle. Vermutlich hätten die kugelsichere Weste, das Mobiltelefon und die Transportpauschale, die ihm die Polizei aufgrund des bestehenden „minderen Risikos“ zu seinem Schutz zur Verfügung stellte, sein Leben auch nicht vor den Schüssen seiner Mörder bewahrt.

Jair wurde getötet, und er war nicht der Erste. Seit sich der Kommunalrat für das Gebiet von Alto Mira und Frontera gebildet hat, um dieses als Kollektiveigentum der schwarzen Gemeinschaften geltend zu machen, sind fünf seiner Mitglieder und mindestens zehn weitere Kommunalpolitiker und Aktivisten getötet worden.

Ich spreche von Jair, aber ich könnte auch von Francisco Hurtado, Yolanda Cerón, Armedio Cortés, Patrocinio Sevillano, Genaro García sprechen. Ich spreche von den Toten des Jahres 2017 im Gebiet von Alto Mira und Frontera, aber Tote gibt es dort seit mindestens zwanzig Jahren.

Einige wurden auf dem mühsamen Weg zur Beurkundung des Kollektiveigentums an ihren Territorien getötet. Andere, die auf die Verflechtung von paramilitärischen Verbänden und Regierungstruppen hingewiesen hatten, wurden erschossen, so als wollten die Mörder sagen: Der spricht ja wie ein Guerillakämpfer, die schreibt ja wie eine Guerillakämpferin. Wieder andere wurden unterwegs von den Kugeln der Guerilla getroffen, während die Anführer der FARC im fernen Havanna verhandelten.

Jair, der Einäugige, erzählte uns von Bananenstauden, von Kakaosträuchern und Kokapflanzen, wobei seine Machete an seinem Gürtel baumelte. Er berichtete von dem Gift, das vom Himmel fiel und die Bäume versengte, ins Wasser eindrang und die Pflanzen in den Gemüsegärten tötete, während die Kokasträucher auf den viele Hektar umfassenden Pflanzungen ungerührt weiterwuchsen. Auf einem Stuhl vor dem Eingang zu seinem Haus sitzend, erzählte Jair von den Schwierigkeiten, mit denen ein Aktivist in einem Gebiet zu kämpfen hat, das von allen begehrt wird. Während er sich an den Tod von Génaro und an die Entschuldigungen erinnerte, die später in einem Video verbreitet wurden, sagte er:

-Und wenn Sie sterben, wer entschädigt Sie dann für das verlorene Leben?

Wenn ich sage, dass mein Freund, der Einäugige, getötet wurde, dann ist es, als würde ich sagen: Alle werden getötet, Männer und Frauen, die führen, die verteidigen.

MAICOL

In seiner Geburtsurkunde stand der Name Gratiniano, aber für mich hieß er Maicol, Maicol Stiven Guevara, das war sein Kriegsname, der in seiner Unterschrift in einem fünfzackigen Stern auslief.

Ich lernte Maicol im September 2016 kennen, in dem legendären Gebiet von Yarí, dem Schauplatz so vieler Siedlererzählungen, in der ausgedehnten Steppe, die nach Wald riecht. Er war ein 24jähriger Guerillakämpfer, und er war, wie alle, noch voll bewaffnet, obwohl es schon die Zeit war, als man immer mehr Waffen achtlos an den Pfosten der Hütten hängen sah. Es war die letzte Konferenz der FARC-EP als aufständische bewaffnete Gruppierung.

Ich erinnere mich an Maicol so, wie er in meiner Kamera zu sehen war: die Zeitung lesend und eine Zigarette rauchend, mit dieser eigenartigen Ruhe, die damals die bewaffneten Männer und Frauen erfasste, die so plötzlich zum Zentrum der Aufmerksamkeit für Journalisten und Neugierige geworden waren. Ein paar Tage, bevor er getötet wurde, das war ein Jahr nach unserer Begegnung, sah Maicol die Bilder, die ich in meiner Kamera und in meinem Gedächtnis gespeichert hatte. In einer Nachricht schrieb er mir, er würde sich selbst fast nicht erkennen, und wenn sein Bruder die Bilder sähe, würde er ihn gewiss ebenso wenig erkennen. Na gut, so war ich in meinem früheren Leben, heute bin ich ein Anderer, schloss er den Chat.

Damals, als ich ihn kennen lernte, nahm sich Maicol zusammen mit den anderen viel Zeit für mich, und um zu verhindern, dass andere Kameraträger sie belästigten, tat ich im Gegenzug so, als sei ich mit ihnen sehr beschäftigt. Maicol erzählte von seiner Kindheit, von der Liebe, von der Zukunft und von seinen Ängsten, während im Radio von der landesweiten Besorgnis über den Ausgang der Volksabstimmung gesprochen wurde, mit der die Friedensvereinbarungen zwischen der Regierung und den FARC besiegelt werden sollten.

Nachdem ich mit dem grellen Blitzlicht Dutzende Fotos der Guerillakämpfer geknipst hatte, und nachdem ein Wolkenbruch über die in Gummistiefeln Fußball spielenden Krieger niedergegangen war, zeigte mir Maicol das Foto, das er in einem Plastikrahmen als Schlüsselanhänger bei sich trug. Es zeigt ihn mit seinem Gewehr in Begleitung zweier Kameraden, die damals bereits tot waren.

Am linken Handgelenk hatte Maicol einen Skorpion eintätowiert, am Unterarm einen fünfzackigen Stern und am rechten Arm das Wort Laura, den Namen seiner Mutter. Statt Guerillakämpfer wäre er lieber Fußballprofi geworden; er war Fan der Clubs América und Barcelona, aber es ist anders gekommen, obwohl man nie aufhören soll zu träumen – so sagte er– mein größter Wunsch ist es, dass der Krieg aufhört. Das ist mein Wunsch.

Maicol wurde getötet. Am 12. September 2017 wurde Maicol ermordet. Sieben Schüsse und sein Leichnam blieb auf der Landstraße liegen, bis andere Bauern dort vorbeikamen. Da waren das weiße Motorrad und die beiden Männer aber schon längst verschwunden.

Maicol wurde getötet, und wenn ich von Maicol spreche, ist es, als würde ich einen der über dreißig Namen aussprechen, die einmal Kriegsnamen waren. Frühere Guerillakämpfer und ihre Angehörigen, ermordet in Antioquia, in Caquetá, in Nariño, in Cauca, in Putumayo, in Chocó, in Valle del Cauca, in Norte de Santander und in Arauca.

Maicol hatte das Wiedereingliederungslager verlassen und war in seine Heimat zurückgekehrt, in das Bäuerliche Reservat El Pato Balsillas, das erste bäuerliche Reservat Kolumbiens, das lange Zeit Kriegsschauplatz gewesen war.

Man sagt, dass Maicol um zehn Uhr abends getötet wurde, als er in der Ortschaft El Roble auf dem Heimweg war. Um 20:38 Uhr erhielt ich seine Nachricht:

-Hallo Schatz, wie geht es dir?

 

Meine Antwort kam zu spät, am nächsten Morgen um 3:01 Uhr. Er war nicht mehr da:

 

–Hallo, hallo, wie geht es dir?

 

Maicol wurde getötet.

Am 4. September schrieb er mir in einer seiner Nachrichten, er habe drei Wochen zuvor den Sammelpunkt zum Übergang ins Zivilleben in Miravalles, Provinz Caquetá, eins von insgesamt 26 Lagern zur Entwaffnung der FARC-Kämpfer, verlassen.

Ich habe das Lager endgültig verlassen, jetzt bin ich Zivilist!

 

Weiter unten, in einer anderen Nachricht, schrieb er:

 

–Meine Pläne: studieren und arbeiten.

MARCEL

Ich denke an Maicol, ich denke an Jair, und plötzlich fallen mir mit Schrecken auch andere Menschen ein, die ich kennen und lieben gelernt habe. Menschen, mit denen ich irgendwann in irgendeinem Winkel Kolumbiens zusammengekommen bin: Ich denke an das Mädchen, das in einem Nasa-Reservat mit einem Globus spielte; ich denke an die Zenú-Frauen, die voller Stolz auf dem früheren Schlachtfeld Auberginen anbauen; ich denke an die Wayuu, die in ihre Bucht zurückkehren und auf ihrem Weg durch die Sand- und Salzwüste nachts voller Angst die Motorräder hören, die durch ihre Siedlungen knattern. Ich denke an die Aktivisten der afrokolumbianischen und indigenen Gruppen, die bei ihren Fahrten über Landstraßen und Flüsse von der Gewissheit begleitet werden, dass ihr Leben jeden Augenblick durch einen Gewaltakt enden kann. Ich denke an den ermordeten Bürgermeister meines Dorfes, ich denke an das Blut, das, wie ich mich zu erinnern glaube, durch die Gosse der Hauptstraße rann. Ich denke an meinen liberalen Großvater, wie er auf dem Berg stand, von dem die Toten beider Bürgerkriegsparteien, der Roten wie der Blauen, jahrzehntelang hinabgestürzt wurden; ich stelle mir die Schreie vor, die der Felsgrat nach den Explosionen gehört hat. Ich denke an den friedlosen Ort, an dem ich zur Welt gekommen bin, ich denke an eine Nacht ohne elektrisches Licht, und an den Schusswechsel, bei dem eine verängstigte junge Frau, meine Mutter, mit ihren drei kleinen Töchtern verzweifelt Schutz sucht.

Ich denke an die Toten, von denen die Bücher der Chronisten seit Jahrhunderten sprechen, an diejenigen, die in weiße oder schwarze Plastiksäcke verpackt, in den Nachrichtenredaktionen angeschwemmt werden, an die anderen, die im Gestrüpp verscharrt werden, an die zu Unrecht Verdächtigten. Ich denke an die, die bald sterben werden. Der Krieg endet ja nicht, sondern verkleidet sich nur, und manchmal nicht einmal das.

Ich denke an die Lebenden und an die Toten, ich denke an die Kriege, die ich nicht verstehe. Ich denke an Maicol und an Jair, ich denke an Marcel.

Marcel war jung wie Maicol; vielleicht sogar noch etwas jünger.
Das liegt jetzt schon mindestens 17 Jahre zurück. Wir besuchten gemeinsam eine Schule für Kampfsportarten, wo ich mich erfolglos darum bemühte, auf meine Atemtechnik zu achten, meinen Körper zu verstehen und mich geschmeidig zu bewegen. Dagegen war ich stolz auf meine Kraft und meine guten Schläge. Während der Ausbilder mich zwang, in einem Spiegel meine Atembewegungen zu beobachten, dachte ich nur daran, dem Sandsack den nächsten Schlag zu versetzen.

Bei einem Routinetraining trat ich gegen Marcel an. Er war schön, von brauner Hautfarbe und mit großen Ohren, mein Vater hätte gesagt, wie ein VW-Käfer mit geöffneten Türen. Er sah aus wie ein Inder oder ein Araber; er schien aus einem fernen Land zu kommen.

Zuerst die Position Ma bu, mit durchgestrecktem Rücken, wobei die Beine mit dem Boden einen rechten Winkel bilden, so als würde man auf einem unsichtbaren Pferd reiten.
Ein Hieb mit der rechten Faust aus dem Schultergelenk heraus, ein Tritt mit dem linken Bein, eine schnelle Ausweichbewegung, ein Tritt mit dem rechten Bein, und plötzlich ergriff seine Hand meinen Knöchel und fing die Bewegung ab, so dass ich in eine langsame Drehung versetzt wurde. Mein Körper drehte sich um die eigene Achse, aber mein Fuß auf dem Boden folgte der Bewegung nicht. Mein Knöchel brach wie in Zeitlupe; Marcel war der einzige, der mir meinen Schmerz glaubte.

Marcel fühlte sich schuldig an meinem Gipsverband und besuchte mich einige Zeit lang in der kleinen Wohnung, in der ich mit meinen Schwestern lebte. Eines Tages kam er nicht mehr und als ich den Verband endlich los war und wieder in die Kampfsportschule gehen konnte, erfuhr ich, dass er sich auch dort nicht mehr hatte sehen lassen. Wir wussten fast nichts über ihn; und so wie er aufgetaucht war, war er auch wieder verschwunden.

Eines Tages klingelte bei uns das Telefon und die Stimme am anderen Ende gab sich als Marcels Bruder aus. Marcel habe ihm von „dem Mädchen mit den roten Schuhen” erzählt; damit war meine Schwester gemeint. Er wolle mit ihr sprechen, weil er ihr etwas sagen müsse. Ich begleitete meine Schwester zu dem Treffen. Ich habe nur noch eine verschwommene Erinnerung an die Begegnung. Der Bruder sah Marcel ähnlich, war aber dünner, größer und wirklicher. Er berichtete zunächst, was Marcel ihm von meiner Schwester erzählt hatte. Er sagte aber auch das andere. Sie hatten Marcel getötet. Es sei in ihrem Heimatort an der Atlantikküste geschehen. Marcel sei in das Dorf zurückgekehrt, um dort zu arbeiten und sich seinen Lebensunterhalt zu verdienen. An dem Unglückstag hielt sich Marcel gerade in der Kneipe auf, die seinem Onkel gehörte. Die üblichen Stammgäste hatten sich dort versammelt. Plötzlich ging die Tür auf und zwei Bewaffnete betraten den Raum. Es waren Angehörige der paramilitärischen Verbände, die sofort das Feuer eröffneten. Marcels Bruder berichtete uns:

 

–Marcel und die anderen wurden getötet.

Meiner Schwester und mir erschien das Ganze wie einem schwarzen Roman entnommen: so fern und so unwirklich, dass es einfach nicht in unsere kleine Welt passte. Wir glaubten dem Bruder und umarmten uns weinend. Während wir noch durch die Straßen gingen, beschlossen wir, dass das Gehörte unser Geheimnis bleiben würde. Vielleicht taten wir dies aus Angst, aus Furcht, die Gewalt würde auch unsere Leben erfassen, wenn wir das Schweigen brächen. Marcel wurde getötet, und wir schwiegen.

Nach dem Treffen mit Marcels Bruder trug ich ein Jahr lang ein schwarzes Band am Handgelenk. Für Maicol werde ich kein schwarzes Band tragen, und für Jair ebenfalls nicht. Ich habe Angst, dass ich, wenn ich damit anfange, meinen ganzen Arm mit schwarzem Flor bedecken muss, beide Arme, meinen ganzen Körper, wie eine trauernde Mumie.

Wir alle haben unsere Toten in Stille beweint. Und erst jetzt erkenne ich, wie schrecklich und traurig es ist, dass nur diejenigen, die mir zu Lebzeiten begegnet sind, meine Toten sind. Die Toten gehören uns nur dann, wenn wir eine winzige Erinnerung, einen Blick, eine Berührung im Gedächtnis bewahren. Die anderen sind nicht unsere Toten, sie sind die Toten anderer, sie gehen in der Lawine von Ereignissen unter, sind Schlagzeile für einen halben Tag oder nicht einmal das. Es sind so viele, dass sie sich vermehren und wuchern wie das Unkraut auf der Weide, während wir, die Lebenden, nur versuchen, sie auszureißen, sie aus dem Weg zu räumen, weil sie unsere Ruhe, unser Glück stören.

Marcel wurde getötet, Maicol wurde getötet, Jair wurde getötet. So viele sind getötet worden; in diesem Augenblick werden Menschen getötet. Es sind auch meine Toten. Sie alle sind unsere Toten.