Die Stimme des Nasa-Volks erschallt aus dem kolumbianischen Amazonasgebiet
21/09/2017 Tag D +294
Ort
Reservats Kiwnas Cxhab
Kreis
Puerto Asís
Departement
Putumayo
Vor seinem Verschwinden übergab Juan Tama, der Donnersohn, sein gesamtes Wissen an die Ältesten und trug ihnen auf, diese Weisheit für des Nasa-Volks aufzubewahren. Dies liegt aber schon lange zurück. Seit dieser Zeit erklingt der Donner in den Bergen und zwischen den Frailejon-Stauden, die wie gewaltige Soldaten das Bergland bewachen. Einmal kam der Donner in das Amazonasgebiet am Ufer des Putumayo-Stroms, weit südlich des heiligen Sees, in dem die Legende geboren wurde. Der Donner dröhnt kraftvoll, aber selbst, wenn alle aus der Gemeinschaft ihn hören, versteht nur Misael, der Thê´ Wala, seine Worte. Der Titel „Thê´ Wala” bedeutet in der Nasayuwe-Sprache so viel wie: Großer Mann.
Die Nacht war angebrochen. Am Feuer, das im Heiligtum brennt, kaut der Thê´ Wala die Esh-Blätter. Esh: So heißt in der Nasayuwe-Sprache die Kokapflanze, die heilige Pflanze, die seit Jahrtausenden die Völker der Anden und des Amazonasbeckens begleitet.
Als alle versammelt sind, beginnt das Ritual. Bevor er sich eine Handvoll geröstete Kokablätter in den Mund führt, “schwenkt” er sie. Dies bedeutet, dass er mit den Blättern in einer Drehbewegung zunächst seinen rechten Fuß, dann seine Schulter, dann seinen Scheitel und schließlich seinen linken Fuß berührt. Danach erst stopft er sich die Blätter in den Mund, wo er sie kauend zu einer Kugel formt, was aussieht, als hätte er einen Golfball in der Backe stecken. Nun drehen seine Hände mit entschlossenen Bewegungen den Poporo * über dem Zwischenraum von Daumen und Zeigefinger, bis der Mambe herabtropft: der Kalk, der direkt auf die Kokakugel aufgetragen werden muss. Der Thê´ Wala kaut langsam und bedächtig. Während er zwischen den Anwesenden umhergeht, reicht er ihnen weitere Kokablätter, damit jeder die gleichen Bewegungen wiederholt: das „Schwenken“ der Blätter von rechts nach links, bevor sie in den Mund geführt werden. Alles ist still, so muss es sein, sagt jemand, sonst kann man die Zeichen nicht sehen.
Im Mund ergießt sich der Mambe auf die Blätter. Der Brei schmeckt süßlich. Manche spüren eine Wunde an der Innenseite der Mundwinkel. Nur schemenhaft sind die Gesichtszüge der Anwesenden zu sehen. Die Körper sind nur zu erahnen, wenn der Lichtstrahl einer fernen Laterne eine stumpfe Nase, einen gekrümmten Rücken oder eine mit Kokablättern gefüllte Hand streift.
Im Halbdunkel kauen die Teilnehmer des Rituals bedächtig auf ihren bitteren und rauchigen Blättern. Die saftige Kugel, die die Backen aufbläht, wird mit Kräutern, Blüten und Samenkörnern gewürzt, die von dem weit entfernten heiligen See stammen. Behutsam zieht man die Zutaten aus der Jigra, legt sie auf die linke Hand, “schwenkt” sie und führt sie dann in den Mund. Eine Explosion von Geschmacksrichtungen und Aromen, die vom Mund in die Nase aufsteigen, Ahnungen von etwas Dichtem, aber Leichtem, das in den Kopf steigt und mit dem zähen Speichel in den Bauch sinkt. Das flackernde Rot der Zigarettenspitzen schwebt in der Stille; fast alle sind bemüht, die Asche nicht zu Boden fallen zu lassen. Nachdem man zunächst den Fußboden mit Schnaps besprengt hat, nimmt jeder einen kräftigen Schluck aus der Flasche. Die warme Flüssigkeit tränkt die Kugel aus Blättern und Kräutern und macht sie weich und beweglich.
In einer Mischung aus Spanisch und Nasayuwe nuschelt der Thê´ Wala Bruchstücke aus Geschichten; zäh und weich strömen die Wortfetzen zwischen seinen grün gefärbten Zähnen hervor. Er erzählt von dem alten Mann, der ihm in seinen Träumen erscheint: dem Donnervater. Er spricht über die Zeichen, er sagt, mit Hilfe der Kokablätter und der Mitmenschen lasse sich erkennen, ob die anderen, die Fremden, krank sind, ob sie geheilt werden können, ob sie lügen oder ob sie gute Absichten verfolgen. Von Zeit zu Zeit muss man die Hütte verlassen, um die Chonta und die Jigra zu empfangen, sie zu schwenken und kräftig auszuspucken, „bis zum oberen Haus“. Im Weltbild der Nasa gibt es vier Häuser, vier „Yat“. Im oberen Haus wohnen die höheren Wesen, danach kommt das Haus der Geister, danach unser Haus, das aber keineswegs nur von Menschen, sondern auch von Geisterwesen bewohnt wird. Schließlich gibt es das Haus der Unterwelt, dessen Zugang durch Höhlen und Senken führt.
In unser Haus, in das Haus der Nasa und der übrigen indigenen Völker von Putumayo, gelangten zuerst die Kautschukhändler, dann die Holz- und Pelzhändler, schließlich die Mitarbeiter der Erdölgesellschaften. Und zuletzt erreichten die roten Samenkörner der Kokapflanze das Land, in dem Misael längst vom Jungen zum Mann gereift war. Und mit der Kokapflanze kamen die Menschen.
Mit den Geschäften kam die Gewalt. Bewaffnete Truppen mit den Abzeichen sämtlicher Organisationen, angefangen von der Fahne der kolumbianischen Streitkräfte bis hin zu den gekreuzten Maschinengewehren der FARC. Es kamen die Masetos (MAS: Tod den Entführern), um mit allem aufzuräumen, was linksgerichtet war oder danach aussah, und schließlich die paramilitärischen Verbände ACCU (Selbstverteidigungskräfte der Bauernschaft von Córdoba und Urabá) und BCB (Zentraler Block Bolívar).
Mit den Erlösen aus dem Verkauf der Kokablätter, die von den Käufern in Labors zu Kokain verarbeitet wurden, gelang es vielen, darunter auch Misael, sich einige Kühe zu kaufen. Aber die Kühe wie das Geld zerrannen den meisten Bauern schnell unter den Fingern; und die Gewalt lauerte an beiden Ufern des Flusses.
Der Kreis, den die Teilnehmer des Rituals gebildet haben, verschwimmt im dicken Nebel des Tabakqualms. Die lethargischen und wie in einen Halbschlaf versunkenen Körper der Anwesenden sind nur zu erahnen. Aber in Wahrheit, erläutert der Thê´ Wala, sind durch das Kauen der heiligen Pflanzen die Sinne geschärft und empfänglich für die Zeichen.
Immer von seinem schweigsamen Assistenten begleitet, nimmt der Thê´ Wala die Jigra y die Chonta in die linke Hand. Die rechte Hand benutzt er als Stütze, um seine linke über die Körper der Anwesenden zu “schwenken”: rechter Fuß, Bein, Schulter, Kopf, Schulter, Bein, linker Fuß. Danach nähert er sich mit seinem Mund dem Scheitel des Teilnehmers und haucht kraftvoll in linker Richtung, so als würde er aus einem Behälter trinken und die Flüssigkeit dann wegspucken.
Die vier Häuser des Universums der Nasa sind übereinander gebaut wie vier Kultstätten. Aber sie besitzen auch Querverbindungen nach rechts und nach links. In der Mitte befindet sich das Gleichgewicht, die Harmonie. Auf der linken Seite ist die Sonne, die Bergheide, die Wildnis, sind die Vorfahren, der Donnervater, die heiligen Pflanzen, die guten Zeichen. Auf der rechten Seite ist der Mond mit den kalten Pflanzen, den schlechten Zeichen. Nun schreitet der Thê´ Wala an jedem einzelnen Teilnehmer vorbei. Ein unverständliches Gemurmel ist zu hören. Der eine zeigt auf seine linke Fußspitze, der nächste auf seine Ferse, ein Dritter auf die rechte Fußspitze, wieder ein anderer auf den Spann, einer weist auf eine Zehe, der letzte auf seine linke Schulter. Der Thê´ Wala betrachtet die bezeichneten Körperteile aus der Nähe und hört genau zu. Er weiß, dass die Männer die Zeichen empfangen haben, aber nur er selbst in der Lage ist, diese zu deuten. Alles ist in Ordnung, die Fremden lügen nicht, aber es gibt noch sehr viel zu tun. Mehr Kokablätter kommen, mehr Mambe auf die Blätter, Kräuter vom See, mehr Tabak, Schnaps, schwenken, schwenken, kauen, schwenken, kauen, kauen, ausspucken, solange, bis die Energie in Harmonie kommt und die Worte fließen.
Im März 2000 erarbeiteten die zwanzig indigenen Räte der zwölf ethnischen Gruppen, die in Putumayo leben, eine Initiative, die sie “Wurzel für Wurzel” nannten, und stellten diese der Regierung vor. Der Vorschlag sah vor, dass die Gemeinschaften sich verpflichteten, die Sträucher der illegalen Anbauflächen eigenhändig auszureißen und sie durch solche Pflanzen zu ersetzen, die geeignet waren, ihre Nahrungsversorgung sicherzustellen, den sozialen Zusammenhalt zu stärken und die Traditionen zu bewahren. Der Plan war das Ergebnis von jahrelanger Arbeit in den Gemeinschaften, von massiver Besprühung der Anbauflächen aus der Luft und von militärischen Aktionen, bei denen die Soldaten loszogen, um die Pflanzen auszureißen, die nichts mehr mit Esh zu tun hatten, sondern lediglich den Rohstoff für das Chlorhydrat des Kokains lieferten.
Misael erinnert sich noch gut. Es war im Heiligtum, im Angesicht des Feuervaters und mit der Kokakugel in der Backe, nach schier endlosem Nachdenken und Kauen, als die Stimme des Donnervaters ihnen die Gewissheit gab, dass sich etwas ändern musste.
Männer und Frauen der indigenen Völker begannen nun, die Kokasträucher auszureißen und wieder solche Pflanzen anzubauen, aus denen Nahrung gewonnen werden konnte. Auf einmal gab es wieder Kühe, Mais, Maniok, Zuckerrohr, Pfirsischpalmen, Bananen, Reis, Borojofrüchte, Avocados, Breiäpfel und Papaya. Auch die heiligen Pflanzen kehrten zurück: der Yagé, die Salbei, die Robinie, die Minze. Aber dennoch kamen wie in den vergangenen Jahren wieder die Flugzeuge, die eine Giftspur hinter sich herzogen. Wieder fiel das Glyphosat auf die Wälder, auf die Gemüsegärten, auf die Heilpflanzen, auf Fische und Rinder. Und wenn das Gift fällt, fliehen die Wildtiere vor dem Anblick der verseuchten Wälder und Gewässer.
Plötzlich fehlte den Menschen das Nötigste zum Leben. Viele zogen fort in andere Teile Kolumbiens oder ins benachbarte Ecuador. Verlassene Gehöfte, vergiftete Menschen, vergiftete Heiligtümer und Kultstätten.
Trotz des Giftregens hielt Misaels Reservat sein Versprechen. In den Gärten, den “Tul”, wie sie auf Nasayuwe heißen, wächst zwar weiterhin die Caucana oder Pajarita genannte Kokapflanze, die „echte“, wie die Indigenen sagen. Aber auch nur diese, die zu gewaltigen Stapeln aufgetürmt geröstet wird und bei den Ritualen von der Gemeinschaft, den Dorfvorstehern, den Wachleuten und dem Thê´ Wala gekaut wird. Heilige Koka, damit Männer und Frauen im Kampf klar denken und kraftvoll vorwärts stürmen können, damit der Thê´ Wala das Land und seine Bewohner in Harmonie versetzen kann, damit der Donnervater die Kraft der verstorbenen Ältesten und Häuptlinge auf die Gemeinschaft herabsendet.
Aus dem Tul kommt Esh und vermischt sich im Ritual mit Schnaps – früher mit vergorenem Mais oder Zuckerrohr – und mit dem Tabak, der im Tauschhandel mit anderen Gemeinschaften erworben wird. Aus wildem und heiligem Land kommen Heilpflanzen und Kalk. Die Nasa sagen, seine Kenntnisse würden es dem Thê´ Wala ermöglichen, sich zwischen den vier Häusern hin- und herzubewegen. Er sucht sie auf und durchzieht sie von rechts nach links wie der reinigende Fluss.