Die haben dort verhandelt und wir haben hier gekämpft

Gefechte, Öl und Gewehre in Putumayo.

28/10/2017 Tag D +331

La Carmelita

Kreis

Puerto Asís

Departement

Putumayo

“Vom 20. Juli um null Uhr an ist jede Angriffshandlung gegen die staatlichen Streitkräfte sowie gegen Einrichtungen der öffentlichen und privaten Infrastruktur einzustellen”, erklärte Guerillaführer Iván Márquez (so sein Kriegsname) 2015 in Havanna.

Bis zum 20. Juli waren schon etwa 26 Guerillakämpfer bei einer Militäroperation ums Leben gekommen, weshalb die FARC den vorherigen Waffenstillstand aufhob. In den Gewässern von Chocó war ein Heeresgeneral entführt und wieder freigelassen worden. Auf Gorgona, das von den 50er Jahren bis 1984 eine berüchtigte Gefängnisinsel gewesen war, war eine Polizeistation angegriffen worden. Schon vor einiger Zeit hatte die FARC einen neuen Waffenstillstand verkündet und dann selbst wieder gebrochen. Der Angriff wurde von einigen als Grausamkeit bezeichnet, von anderen als Hinterhalt, als Ausbruch aus einem Hinterhalt, als Überfall: zehn tote Soldaten und 21 Verwundete, ausgestreckt auf dem Sportplatz eines kleinen Dorfes in Cauca. Nach Ansicht der Experten war der Juni 2015 der Monat mit den meisten FARC-Gewalttaten seit Beginn der Friedensverhandlungen zwischen Regierung und Guerilla in Havanna. 83 Gewalttaten, neun Brandstiftungen an Last- und Personenwagen, vier Hinterhalte, drei Morde, 24 Angriffe auf Polizeieinrichtungen, 21 Sprengstoffanschläge, davon 17 gegen Ölpipelines, Verkehrswege und Stromleitungen. Bis zum Juli war in Putumayo viel Öl ausgelaufen, und die schwarzen Flecken in Flüssen und Bächen sind heute noch zu sehen.

Dort, zwischen Puerto Vega und Teteyé, steht wie ein gewaltiger Wurm eine lange Schlange von Sattelschleppern an der Landstraße, die nach Ecuador führt und bei der es sich in Wirklichkeit nur um eine Schotterpiste handelt, trotz der Tonnen und Abertonnen von Geld, die in Form von Erdöl hier vorbeiströmen. Die gewaltigen Hähne werden geöffnet und der zähe Strahl sprudelt heraus. Der Boden beginnt sich von den Wegrändern her schwarz zu verfärben. Der Fleck erreicht die ersten grünen Blätter neben der Straße, dringt in das Erdreich ein, dehnt sich weiter aus und ergießt sich in den Bach, wo der Geist der Nasa-Indigenen und der Kofan lebt. Das Erdöl ergießt sich auf den Boden und erreicht vor den Augen der schweigenden Fahrer den Wald. Der Blick der Guerillakämpfer, die mit dem Gewehr in der Hand den Befehl zum Öffnen der Ventile gegeben haben, geht in die Weite.

Das Öl ist schon oft in den Boden, in das Wasser und in die Tiere eingedrungen: Tausende und Abertausende Fässer, Zehntausende Kanister, Millionen Liter. Schwarze Flecken auf den Flüssen Putumayo und San Miguel, lebenswichtige Flüsse, auf denen Schiffe verkehren, aus denen getrunken wird, in denen gefischt wird. Und nicht nur die Gewehre der FARC sind der Grund dafür, dass Öl ausfließt, sondern dies geschieht auch während der täglichen Produktions- und Erkundungstätigkeiten der großen Ölfirmen. Wie die Bewohner der Region nachweisen konnten, gießen diese ihre Abwässer in Flüsse und Bäche: in San Miguel, El Diamante, Mochilero, Buenos Aires. Das verschmutzte Wasser gelangt in die Sumpfgebiete und Seen.

Am 7. Juli 2015 in aller Frühe quälte sich eine weitere Schlange von Sattelschleppern über die Landstraße zwischen Mansoyá und Santana in einem einsamen Gebiet von Putumayo. Dieser Konvoy wurde jedoch von einer Motorradeskorte der 27. Brigade begleitet. Plötzlich detonierte vor dem Zug ein Feuerball; im gleichen Augenblick begannen Gewehrkugeln von allen Seiten auf die Tanklaster zu prasseln. Die einen hatten den Auftrag, die Ventile zu öffnen. Die anderen, die ebenfalls ihre Gewehre in den Händen hielten, sollten dies verhindern.

Der Konvoy, der sich mit seiner leicht entflammbaren Ladung in eine Bombe verwandelt hatte, kam zum Stillstand. Wie in einem Wildwestfilm sprangen die Fahrer routiniert aus ihren Kabinen und warfen sich so weit wie möglich von ihren Fahrzeugen entfernt zu Boden.

Die Angreifer feuerten von einer Anhöhe aus, während die Soldaten längst von ihren Motorrädern abgesprungen und auf dem Boden in Stellung gegangen waren. Von dort aus feuerten sie ihre Gewehrsalven ab, ohne mit dem Bauch den Boden zu berühren. Sicherlich waren inmitten des Kugelhagels Stimmen zu hören, Befehle, Flüche, Hilferufe, der hat etwas abgekriegt, den hat es erwischt, Schmerzensschreie, das fühlt sich an wie ein Wespenstich, nur stärker, und dann kommt das Blut und versaut einem die ganze Uniform.

Der Gefechtslärm wurde immer lauter, Verwundete wälzten sich am Boden, mehr als einer starb mit dem Funkgerät an der Seite. Als die Verstärkung der Heerestruppen eintraf, waren die Angreifer längst verschwunden, aber auch ein Soldat wurde vermisst.

–Ich war bei dieser Schießerei dabei. Wir haben uns den Mann geschnappt und auf ein Motorrad gepackt; er war verletzt. Die Wunde war an einem Arm. Wir haben ihn nicht gefesselt, obwohl wir misstrauisch waren; man weiß ja nie. Aber der Genosse hat gesagt: Wir fesseln den nicht, der ist verletzt. Lasst ihn aber nicht aus den Augen.

–Als wir in den Hinterhalt geraten waren, habe ich gleich angefangen zu kämpfen. Der Tote war mein Funker, der ist im Kampf gefallen. Mich hätte es um ein Haar auch erwischt. Als ich umgekippt bin, lag es daran, dass ich mein Gewehr nicht mehr halten konnte. Als ich das Magazin gewechselt habe, habe ich den Arm zu hoch angehoben; dabei habe ich einen Schuss abbekommen. Das Gewehr ist hingefallen und ich konnte es nicht mehr aufheben. Als ich mich umgesehen habe, waren die von der Guerilla schon da.

–Das Generalkommando der FARC-EP teilt mit, dass Leutnant Christian Moscoso Rivera, Angehöriger der 27. Brigade der Sechsten Division des Nationalen Heeres, sich infolge der Gefechte im Bereich der Ortschaft El Líbano in der Gewalt der 32. Front befindet. Seine Verletzungen sind nicht schwer wiegend; er erhält die erforderliche ärztliche Versorgung. Wir fordern die Regierung auf, die Suchoperationen einzustellen, um das Leben des Offiziers nicht weiter aufs Spiel zu setzen, und stattdessen die für eine baldige Freilassung erforderlichen Protokolle in Gang zu setzen.

–Er erzählte uns, dass er gedacht hat, wir würden ihn umbringen. In seinem Bataillon gelten wir ja als kaltblütige Terroristen, die auf das Leben anderer Soldaten keine Rücksicht nehmen. So sind wir aber gar nicht. Wir haben ihn gefangen genommen und ihm Verpflegung gegeben. Er hat sogar besser geschlafen als ein Guerillakämpfer. Wir mussten auf einem Lager aus Blättern auf dem Boden unter einer Plane schlafen, das war alles. Dieser Soldat hat eine Matratze bekommen, außerdem mussten wir vier Bretter schleppen, um ihm überall, wo wir hinkamen, ein Feldbett aufzuschlagen. Verpflegung hat er auch bekommen: Frühstück, Mittagessen, Abendessen, Kaffee, alles.

–Sie haben mir gesagt, dass sie mich heilen, dass sie meine Wunden behandeln würden. Dass sie mich freilassen würden, sobald ich wieder gesund wäre. Ich habe nichts davon geglaubt. Ich habe ihnen nur gesagt, wenn sie mich umbringen, sollten sie mich irgendwo hinbringen, wo meine Angehörigen mich finden könnten. Ich habe stark geblutet. Am zweiten Tag mussten wir einen Marsch von etwa vierzehn Kilometern machen und ich habe stark geblutet. Auf einer Anhöhe haben wir gerastet und sie war es, die mir das Hemd ausgezogen und es gewaschen hat. Schon am Vortag hatte sie meine Kleidung gewaschen, denn alles war voller Blut. Eliana hat das alles für mich getan. Obwohl sie… auch sie war bei dem Gefecht dabei.

–Man sagt immer, dass alles seine Geschichte hat. Die Menschen, die Waffen und ganz besonders diese Gewehre, die es nur bei den Regierungstruppen gibt. Einige davon sind “made in Israel”, andere “made in Colombia”, aber solche Waffen gibt es nur bei denen. Das Gewehr, das ich trage, hat seine Geschichte. Wir haben es erbeutet. Ich sage “wir”, denn wir sprechen immer vom Kollektiv. Wir haben es bei einer militärischen Operation erbeutet, bei der Christian Moscoso gefangen genommen wurde. Ich weiß nicht, ob es ihm gehörte oder seinem Kameraden. Aber auf jeden Fall gehörte es einem von beiden. Das ist schade, nicht wahr? Das zu erzählen, zu wissen, dass es Tote gegeben hat. Deshalb sollte man wenigstens hervorheben, wie tapfer der Mann war. Er war an einer Hand verletzt und konnte sein Gewehr nicht mehr betätigen; deshalb musste er sich ergeben.

–Ich kann nicht von allen sprechen. Ich kenne euch ja gar nicht. Ich spreche von denen, die bei mir waren. Diese Guerillakämpfer haben mich anständig behandelt.

–Wir haben Nachrichten gehört und er wollte auch zuhören. Wenn man ihn bewacht hat, hat man gemerkt, dass er aufpasste. Deshalb haben wir ihn gefragt, ob er Nachrichten hören wollte, und er hat uns vorgeschlagen, ihm ein Radio zu schenken. Ich habe das unserem Kommandanten gemeldet, und er hat gesagt, na klar. Ein Guerillakämpfer musste sein Radio abgeben, und er hat es bekommen. Manchmal ist das Leben so. Das Radio hat er mitgenommen, als wir ihn übergeben haben. Er hat immer Nachrichten gehört. Wenn Nachrichten von Schießereien und getöteten Soldaten kamen, dann hat er gesagt: So eine Scheiße, die Soldaten hat es erwischt. Meine armen Soldaten, hat er dann gesagt. Wir haben nicht gelacht und auch nichts gesagt. Wir haben die Klappe gehalten. Ich habe nur gesagt: Ja, im Krieg ist das halt so.

–Dieses Gewehr gehörte nicht mir. Es gehörte einem Anderen. Es gehörte zu seiner Ausrüstung und später habe ich es bekommen. Bei der FARC besitzt niemand ein Gewehr, niemand ist sein Eigentümer, wir “haben die Waffen getragen”. Und wir haben sie getragen, wie es sich gehört. Das Gewehr ist für einen das Leben. Deshalb muss man es auch hegen und pflegen. So ein Gewehr wie dieses muss man gut behandeln, in erster Linie, weil es Menschenleben gekostet hat.

–Als er schon wusste, dass er freigelassen würde, hat er sich verabschiedet: Tschüs Jungs. Wir haben ihm eine Frage gestellt, ein Junge von der 32. Front hat ihn gefragt, was er machen würde, wenn er mal einen von uns auf der Straße trifft. Und er hat gesagt: Nichts, ich würde ihm die Hand geben. Und der Guerillakämpfer hat gesagt: sei mal ehrlich, mach uns nichts vor. Und er hat wieder gesagt: Ich würde ihm die Hand geben, aber der Guerillakämpfer wollte ihm nicht glauben. Ich weiß nicht, wie die Diskussion geendet hat.

–Ich glaube, die in Havanna können selbst sehen, dass die Waffen, die wir abgegeben haben und die jetzt in den Containern sind, sich in erstklassigem Zustand befinden. Die Guerillakämpfer haben ihre Waffen immer in Schuss gehalten. Der Kommandant konnte einem ja jederzeit sagen: So, jetzt will ich mir mal deine Waffe ansehen. Wenn die Waffe nicht gereinigt war, und vor allem, wenn das mehrmals vorkam, dann bedeutete das, dass man nicht würdig war, die Waffe zu tragen. Her mit dem Gewehr, hat der Kommandant dann gesagt, und dann hat es ein anderer bekommen, der sorgfältiger war. Wenn du zu faul bist, um dich um die Waffe zu kümmern, dann bekommt sie ein anderer. Der hält sie dann in Schuss. Der Grund ist ja ganz einfach. Wenn man die Waffe nicht pflegt, dann taugt sie irgendwann nicht mehr. Aber wir können ja nicht zusehen und abwarten, bis es so weit ist. Wir waren ja im Krieg und da braucht man funktionstüchtige Gewehre.

Das war so während des Konflikts. Heute reinigen wir die Waffen nur noch, damit sie glänzen und damit nicht so viel Schlamm rauskommt, wenn sie eingeschmolzen werden. (Gelächter).

–Wir haben ihn einen Monat festgehalten, oder weniger, glaube ich. Wir konnten nicht mit ihm reden, wir waren in unserem Lager und er woanders, in einer Art Hütte. Er hat gedacht, wir wären anders. Zu einer jungen Frau hat er Vertrauen gefasst, das war eine Krankenpflegerin. Sie hat sich um ihn gekümmert, hat ihn gefüttert, gewaschen, sie war ständig bei ihm. Er war der letzte, den wir in unserem Block freigelassen haben. Das war schon während des Friedensprozesses, während der Verhandlungen in Havanna. Die haben dort verhandelt und wir haben hier gekämpft.

An diesem Tag breitete sich kein Ölteppich im Wald und auf den Wegen aus. Die Kampfhandlungen verhinderten dies letztlich. Und dennoch sickert auch weiterhin Erdöl in das Erdreich und läuft in die Gewässer. Es strömt aus, wenn es in einer der improvisierten Ölleitungen, mit denen Erdöl aus den Pipelines abgezapft werden soll, zu einer Explosion kommt. Dann versickert es wieder vor den Augen der Bauern, die keine Gewehre, sondern nur Hacken und Erdklumpen in ihren Händen halten.

– Vom 20. Juli um null Uhr an… erklang von der Insel her die Stimme von Iván Márquez.

Am 20. Juli, dem Tag nach der Freilassung des letzten von der FARC entführten Soldaten, begann ein neuer einseitiger unbefristeter Waffenstillstand. Ein Jahr später, am 26. Juni 2016, wurde ein “beiderseitiger endgültiger” Waffenstillstand vereinbart. Ein weiteres Jahr später, im August 2017, wurden die Container mit den Waffen versiegelt, die die früheren FARC-Kämpfer abgegeben hatten und die nun unbrauchbar gemacht und zerstört werden sollen.

ANMERKUNGEN

Die Stimme eines der früheren Guerillakämpfer, die hier wiedergegeben wird, haben wir in einem Restaurant im Sammelgebiet La Carmelita in Putumayo zwischen Puerto Vega und Teteyé gehört. Dort erzählte er von den sechs “schweren” Gefechten, an denen er teilgenommen hatte und bei denen er dank seines Geschicks und der erhaltenen Ausbildung niemals verwundet wurde.

Der zweite frühere Guerillakämpfer erzählte uns seine Geschichte nur wenige Schritte von seiner neuen Übergangsunterkunft entfernt, die er mit seiner Partnerin und seinem Kind bewohnt. Das Haus liegt ebenfalls im Sammelgebiet La Carmelita. Auf seinen Beinen lag ein Galil-Gewehr, das bereits mit einem Balkencode der Vereinten Nationen versehen war und das er nur wenige Stunden später in einen der hierfür vorgesehen Container verbrachte. Im Gegenzug erhielt er die Papiere, aus denen hervorgeht, dass er seine Waffe abgegeben und somit den ersten Schritt zur Wiedereingliederung in das Zivilleben vollzogen hat.

Der Sprecher, der meldete, dass sich der Unterkommandant der Regierungstruppen in der Gewalt der 32. Front befand, war Joaquín Gómez (so sein Kriegsname), Kommandeur des ehemaligen Blocks Süd und Angehöriger der FARC-Verhandlungsdelegation in Havanna.

Die Stimme von Christian Moscoso stammt aus den Archiven von Informativo Insurgente, einer Nachrichtensendung der FARC-EP, die im Internet abrufbar ist und die am Tag der Freilassung des Unterkommandanten von kolumbianischen und ausländischen Medien verbreitet wurde. Seine Stimme wurde dabei teilweise vom Lärm eines in der Nähe landenden Hubschraubers übertönt. Vor den FARC-Kameras sprach Christian bedächtig, so als würde er jedes seiner Worte genau abwägen.
Nachdem er seine Erklärung abgegeben hat, zeigt die Kamera aus dem fliegenden Hubschrauber heraus von oben die Lichtung, auf der Dutzende Guerillanagehörige in Tarnuniformen und mit geschulterten Gewehren ihm zum Abschied zuwinken. Schließlich sieht man von unten im Gegenlicht den Hubschrauber, der sich mit Moscoso an Bord entfernt.