Die Welt im Gleichgewicht

Heilmittel und Krankheit im Gebiet der Nasa-Indigenen

25/11/2017 Tag D +359

Pueblo Nuevo

Kreis

Caldono

Departement

Cauca

I

 

ALS ICH DAS GEHIRN VERLOR

Das Land, in dem das Nasa-Volk und die Tiere leben, wo es Steine und Wasserlöcher gibt, ist das große Haus. Unter diesem Haus und darüber wohnen noch weitere Wesen. Die Indigenen erzählen, dass es Wesen gibt, deren Existenz wir nicht einmal ahnen können. Für das Nasa-Volk kommt es im Leben darauf an, die Harmonie und das Gleichgewicht zwischen all den Elementen zu erhalten, die den Kosmos bilden und die in den Händen der Älteren – der Weisen – eine Linie bilden, die in zwei Spiralen endet und dabei von zahlreichen horizontalen und vertikalen Linien gekreuzt wird, die sich zu einem Netz fügen. Es ist der Kosmos, wie er aus dem Auge und dem Herzen des Nasa-Volks gesehen und erlebt wird. Wird das Gleichgewicht an irgendeiner Stelle gestört, entsteht das, was wir als Krankheit bezeichnen: Menschen erkranken, Gemeinschaften erkranken, die Erde erkrankt: die Götter zürnen.

Es war Donnerstag, Markttag im Reservat *, die meisten waren auf dem Dorfplatz, kauften, verkauften, luden auf, luden ab. Er nicht. Am Vortag hatten sie in der Zuckermühle gearbeitet, nun hatten sie ihr Kanu bereits mit einer ordentlichen Ladung Zuckerrohrschnaps bepackt. Aber dabei waren noch etwa vierzig Stangen Zuckerrohr übriggeblieben, deshalb war er nochmals zur Mühle gegangen, um die Arbeit abzuschließen. Sein Neffe und vier Landarbeiter halfen ihm dabei. Das Pferd trottete im Kreis herum und zog den Pleuel hinter sich her: eine grobe und schwere Holzstange, die die Mühlräder antreibt. Sorgfältig führte er die Rohrstangen in das Mahlwerk ein, so dass sie von den Pressen erfasst wurden und den süßen Zuckerrohrsaft freigaben, aus dem der Rohrzucker gewonnen wird, der aber auch durch Gärung in den beliebten Zuckerrohrschnaps verwandelt werden kann.

Bei den Reservaten handelt es sich um juristische und soziopolitische Einrichtungen, die aus einer oder mehreren indigenen Gruppen bestehen und über kollektives Landeigentum verfügen. Auf diesem Land gilt die indigene Gerichtsbarkeit im Rahmen eines eigenen Rechtssystems. Nach einem langen Kampf der indigenen Bevölkerung stehen die Reservate heute unter dem Schutz der kolumbianischen Verfassung von 1991.

Damals hatte ich nur Feiern im Kopf. Weil ich mit den letzten Rohrstangen endlich fertig werden wollte, kam, was kommen musste. Der Fuß des Mahlwerks war ein Klotz mit zwei Schrauben und der Pleuel war krumm. Zuerst traf mich der Pleuel, und als er mich traf, sah ich ein Licht und dann nichts mehr, ich verlor das Bewusstsein und fiel hin.

Die vier Arbeiter sahen das Unglück und liefen davon. Sein Neffe, noch ein kleiner Junge, sah sprachlos zu, wie das Pferd ruhig weitertrottete und sich das Zugseil dabei immer mehr um den Verunglückten wand, der ohnmächtig auf dem Boden lag. Als das Pferd merkte, dass das Gehen immer mühsamer wurde, machte es einen ruckartigen Schritt nach vorne. Dabei zerrte es an dem Seil, das sich schon um den Kopf des Verletzten gewunden hatte, so dass die Schraube die Schädeldecke durchbohrte.

Durch dieses Loch lief das Gehirn aus und ich wurde gelähmt.

Nur wenige Tage zuvor hatten sie Kokablätter gekaut*. Er empfing die Kokablätter und schwenkte sie von rechts nach links, um sie von „der Unreinheit“ zu befreien. Die traditionelle Ärztin, die in der Lage ist, die Zeichen zu sehen und zu deuten, die während der Zeremonie auftreten, die aber vor allem Macht über den Donner hat, erkannte, dass das Zeichen Jhon Jarvi nichts Gutes verhieß. Sie sagte es ihm: ein schlechtes Zeichen, etwas Schlimmes wird dir zustoßen. So bald wie möglich sollte er sich dem Reinigungsritual unterziehen, aber Jhon Jarvi tat es nicht. Er stellte die Harmonie mit der Kraft der heiligen Pflanzen nicht wieder her.

Es handelt sich um ein Ritual, bei dem Kokablätter mit Kalk vermischt und von den Teilnehmern zerkaut werden.

Und dann kam der besagte Markttag. Es war der 28. Dezember 2004.

Inmitten der tiefschwarzen Nacht in den Bergen schwirren helle Lichter wie kleine Sterne. Die Candelilla * sehen aus wie brennende Zigarettenkippen, die sich in den Bergen hin und her bewegen. Es heißt, die Glühwürmchen seien böse, Vorboten eines Unglücks, die die Menschen warnen, damit diese noch rechtzeitig zum Heilmittel greifen. Und es heißt auch, nicht nur die Glühwürmchen seien solche Vorboten, sondern auch der Gesang der Vögel, der Stein, über den man stolpert, die Windböe, die einem ins Gesicht weht, die eigenwilligen Wolkenformationen, sie alle sind die Stimmen der Mutter Natur, die zu uns spricht, um uns zu warnen.

Candelilla: Glühwürmchen
Die Glühwürmchen sind wie Bienen, aber sie sind böse, sie haben lange Wimpern und leuchten in der Nacht, sie tun den Menschen Böses. Wenn ich vor dem Unfall dieses Glühwürmchen gefangen hätte, wäre mir nichts passiert. Aber ich habe gar nicht daran gedacht, ich dachte nicht, dass mir das passieren würde.

Nach dem Unfall in der Zuckermühle sagte die traditionelle Ärztin, Jhon Jarvi habe zwei Glühwürmchen gehabt, zwei Übel, die ihm folgten, und diese hätte er einfangen müssen. So aber war sein Urteil gesprochen.

Alles ging ganz schnell. Der verwirrte Blick seines kleinen Neffen, der zusah, ohne zu verstehen, was da aus dem Kopf seines Onkels hervorquoll, die Aufregung im Dorf, die Brüder, die herbeigeeilt kamen, um zu helfen, Doña Rosalbina, die um ihren Sohn weinte und nach den traditionellen Ärzten rief. Er war bewusstlos, wie ein Toter lag er auf dem Wagen, mit dem man ihn von Pueblo Nuevo über holprige Pisten nach Caldono brachte. Dann heulte das Martinshorn des Krankenwagens auf der Panamerikanischen Fernstraße Richtung Popayán. Elsa, seine Schwester, klammerte sich an den Fahrer des Motorrads, das versuchte, dem Krankenwagen zu folgen.

Der kommt nicht durch, der überlebt das nicht! Wir sagen Ihnen in ein paar Stunden Bescheid. Eine Operation. Er ist noch nicht aufgewacht, es kann sein, dass er nie mehr aufwacht.

Während er im Krankenhaus in seinem langen Schlaf lag, wandte sich Rosalbina an die traditionellen Ärzte. Vom Dorf aus beschworen diese die Kokablätter und die Macht der Geister. Sie brachten Heilmittel ins Krankenhaus, kauten nächtelang auf Kokablättern herum und warteten auf Jhon Jarvis Glühwürmchen.

Ich spürte nichts von all dem, was sie mit mir anstellten, ich war wie tot. Das heißt, mein Geist war schon auf dem Weg in den Himmel, ich kroch weg.
Im Traum war ich auf einer Weide, ich kroch durch das Gras und sah umher. Dort stand ein großes Haus, und in einem Raum lagen die Toten in Särgen. Ich sah genau hin, ich wollte feststellen, ob es sich um Bekannte handelte, aber ich kannte niemanden. Ich trat immer näher an die Särge heran, plötzlich kam ein weißer Stier auf mich zugestürmt. Ich lief davon, und als ich im Freien war, wachte ich auf und erkannte, dass ich im Krankenhaus lag. So kehrte ich ins Bewusstsein zurück. Der Stier hatte mich aufgeweckt, ohne den Stier weiß ich nicht, wo ich jetzt wäre. Ich glaube, dass der Stier mich töten wollte, aber mein Tag war noch nicht gekommen, und deshalb hat er mich leben lassen.

Nach einem Monat im Krankenhausbett wachte Jhon Jarvi auf. Er erkannte niemanden, und von seinem ganzen Körper konnte er nur die Augäpfel bewegen. Mit seinen geschlossenen Augenlidern sah er aus wie ein Chinese. Die linke Körperhälfte war steif, er sah nichts und konnte nicht sprechen. Im Rollstuhl kehrte er ins Dorf zurück, der Schmerz blieb sein treuer Begleiter.

Mir tat der ganze Kopf weh, sogar die Zähne taten mir weh. Als die traditionelle Ärztin aus San José de los Monos kam, heilte sie meinen Schmerz, denn sie machte mein Heilmittel zusammen mit dem Kobold und fing ein Glühwürmchen ein und warf es in das Heilmittel. So hat sie meinen Schmerz geheilt.

Einige Zeit später suchte Jhon Jarvi Don Mario, einen anderen traditionellen Arzt auf, um auch das zweite Glühwürmchen zu suchen, das ihn weiterhin quälte. Beide stiegen zusammen in den Fluss, warteten, bis es Mitternacht wurde, kauten Kokablätter, und der Arzt behauchte die Kopfhaut Jhon Jarvis mit heiligen Pflanzen. Stundenlang warteten sie im Nebel, aber das Glühwürmchen ließ sich nicht blicken. Durchnässt stiegen sie über den Berghang zurück in Richtung auf das Dorf.

Deshalb laufe ich so schief und krumm durch die Gegend, die sind böse und lassen sich nicht so leicht einfangen. Ich weiß nicht, wie viele Gramm es waren, aber ich habe das Gehirn verloren und deshalb bin ich jetzt linksseitig gelähmt, deshalb bin ich auf der einen Seite wie ein Leichnam, ich habe nichts gefühlt, ich konnte nicht sprechen, ich war wie ein Denkmal.

Jhon Jarvi steigt den Berg hinab, seine linke Hand ist zusammengekrampft, als würde er etwas festhalten, sein ganzes Gewicht ruht auf dem linken Bein, das er etwas nachzieht, aber er kommt voran. Jhon Jarvi führt zwei Pferde, die mit Kaktusfasern beladen sind, sie steigen den steilen Hang hinab, bis sie das Flussufer erreichen. Im Wasser, zwischen den Kieselsteinen, sehen die Fasern aus wie der lange Haarschopf eines Ertrunkenen. Mit seinen Gummistiefeln stampft er auf den Fasern herum, bis diese ihre grüne Färbung verlieren und das Haar langsam bleich wird.

Sprechen und lachen war für mich sehr anstrengend, denn wenn man lacht, bewegt sich ja alles. Deshalb konnte ich nicht lachen. Am Ende habe ich den Mund immerhin ein klein wenig geöffnet, da sind dann die Nachbarn gekommen und recocha * und haben gesagt, das wäre ihre Therapie. Und es war ja auch wirklich eine Therapie, denn ich habe mich bemüht zu lachen. Mit der Zeit ist das Gehirn wieder gewachsen, deshalb kann ich jetzt wieder lachen und sprechen. Ich kann jetzt wieder meine Witze reißen, auf Nasayuwe und auch auf Spanisch.

Recocha, in Kolumbien, verweist haben Witze gemacht

Von dem Trockengestell, das schon seinen Großeltern gehörte, lässt Jhon Jarvi die Pflanzenfasern auf die Wiese gleiten. Über die Schnüre, die über ein Rohrgeflecht gespannt sind, breitet er die Fasern wie einen goldfarbenen Vorhang aus, der ihn schließlich bedeckt.

Mittlerweile hat sich schon sehr viel verändert, ich kann einigermaßen laufen und kann ganz normal arbeiten. Vorher konnte ich nicht arbeiten, das war schlimm, denn ich konnte rein gar nichts machen.

In dem Raum stapeln sich die Faserbündel bis an die Decke. Das Morgenlicht dringt durch das Fenster ein und wirft den Schatten der Fenstergitter auf das Haar, das nun verkauft werden kann, um daraus Seile und Säcke herzustellen. Draußen flattert John Jarvis zweites Glühwürmchen leuchtend durch das Bergland.

II

 

AUF DER STRAßE RUFEN SIE: DU HEXE!

Als sie mit fünf oder sechs Jahren in Popayán ankam, verstand sie nicht ein Wort Spanisch. Ihre Zunge und ihre Ohren kannten nur die Laute des Nasayuwe , der Sprache ihres Volkes. Sie erinnert sich, dass sie nach einer Woche verstehen konnte, was von ihr erwartet wurde. Nach einem Monat war sie in der Lage, so zu kochen, wie es den Herrschaften schmeckte. Um die Anrichte in der Küche zu erreichen, musste sie auf einen Stuhl klettern.

 

So lebte sie, arbeitete für die Weißen, bis sie eines Tages einen Zettel erhielt: ihr Neffe, der bei ihrer Mutter lebte, hatte sich erhängt. Jetzt war die Alte allein.

Um fünf Uhr nachmittgas erhielt ich die Nachricht, da habe ich den Zettel gelesen. Am frühen Morgen habe ich meine Sachen zusammengepackt und mich auf den Weg gemacht. Mich hält niemand auf. Der Vater meines Kindes wollte mich nicht gehen lassen. Er war 45 und ich war eine sechzehnjährige Göre, aber ich war sehr ordentlich. Er sagte: du bist eine gute Frau, besser als meine Frau. Ich wusste nicht, dass er verheiratet war, man hat mich zu ihm gebracht, und ich habe gesagt: Nein, ich will nicht mit einem verheirateten Mann zusammenleben. Also habe ich mir meine Sachen geschnappt, alles eingepackt und bin losgefahren.

Nach der Rückkehr in ihr Dorf, zur Nasayuwe-Sprache * und auf das Feld lernte Ana María ihren späteren Mann kennen, dem sie später vor einem Geistlichen schwor, ihm in guten und schlechten Tagen beizustehen. Domingo lernte sie nicht beim Tanzen kennen und nicht auf dem Markt, sondern unterwegs. Er hatte sich verirrt und ging ein Stück des Wegs mit ihr gemeinsam.

Nasa yuwe:, Sprache der Nasa-Indigenen.

Er hat sich mir angeschlossen, deshalb habe ich, wenn wir gestritten haben, zu ihm gesagt: Hau ab, du hast den Weg gefunden. Ich war 21 Jahre, er war zwölf oder dreizehn. Ich habe ihn großgezogen (lacht) und es geht uns gut, wir waren sogar zusammen im Gefängnis. Mit Domingo habe ich vier Kinder und zusammen mit dem von dem anderen (Mann) sind es fünf.

Die Leute im Dorf erfuhren es allmählich. Die Gerüchte begannen sich auszubreiten, als sie merkten, dass ein Mitglied ihrer Gemeinschaft verschwunden war. Die indigene Polizei nahm die Suche im gesamten Gebiet auf. Die Ältesten und die traditionellen Ärzte kauten Kokablätter und vollzogen ihre Rituale, um den Verschwundenen aufzuspüren. Wenn in einem Gebiet, durch das im Laufe der Zeit so viele bewaffnete Gruppierungen gezogen sind – die Guerillagruppe M 19, die Gruppe Quintín Lame, die FARC, paramilitärische Verbände – einer aus dem Dorf plötzlich verschwindet, dann macht das den Menschen Angst.

 

Als sie den Mann fanden, war er schon tot. Jetzt galt es, die Mörder zu fassen.

Es waren zwei Männer und eine Frau. Die drei wurden der Bürgerversammlung von Pueblo Nuevo vorgeführt, die darüber zu befinden hatte, ob sie schuldig zu sprechen seien und das „Heilmittel“ zu verabreichen sei, denn bei Verfehlungen – Straftaten in den Augen der Nicht-Indigenen – handelt es sich um eine Krankheit, eine Störung der Harmonie, die geheilt werden muss. Die Schuldigen erhielten Peitschenhiebe auf die Beine, das fuete * und wurden über einem Scheiterhaufen hin- und hergedreht. Dann wurden sie Cepo. ** Es folgte ein Ritual, bei dem die Beine der Frau und eines der beiden Männer mit Kot beschmiert wurden, um ihnen die Kräfte wieder zu entziehen, durch die der Donner sie zu traditionellen Ärzten gemacht und ihnen Macht über die Natur und die Geisterwelt verliehen hatte. Schließlich beschloss die Versammlung, dass die Schuldigen eine 35jährige Haftstrafe in patio prestado *** einem Gefängnis außerhalb des Reservats zu verbüßen hätten, da die auferlegten Heilmittel der Schwere der begangenen Tat nicht angemessen waren.

Fuete: eine physikalische Sanktion typisch für die Nasa, Embera und Chamí, die in Verzurren der Täter mit einem Stier Peitschen- oder mit Heilpflanzen besteht. Es ist symbolisch darzustellen Blitz, ein Reinigungselement verwendet.
*Cepo: eine physikalische Sanktion, wurden sie mit den Füßen an Holzpfosten aufgehängt.
**Patio prestado: Ab 1999 der regionale Indigenen Rat von Cauca beschlossen, Strafvollzugsanstalten für Sanktionen der indigenen Bevölkerung zu wiederholen, die Verbrechen begangen, die schwer auf das soziale Gleichgewicht verletzen.

Ein Freund von uns war bei der Miliz, einmal habe ich ihn mit einer kleinen Waffe gesehen, und ich habe ihm gesagt: Wozu brauchst du die? Ich werde das dem Rat# melden. Er hat mir geantwortet: Wenn du mich verpfeifst, knalle ich dich ab. Da habe ich Angst bekommen. Auch mein Mann hat gesagt: Halt lieber die Klappe. Wenn der dich umbringt, bleibe ich allein mit den kleinen Kindern zurück. Wie soll ich das schaffen?

Los Cabildos, son la autoridad política administrativa de los resguardos indigenas.

Viele Waffen sind durch die Gebiete der Nasa gegangen. Sie kamen mit den Siedlern, mit den Großgrundbesitzern, mit den Guerillakämpfern und den Paramilitärs, mit den Drogenbaronen, den Soldaten und Polizisten, sie kamen an Bord von Flugzeugen und Hubschraubern. Im Bergland zu beiden Seiten des Cauca hat es zwar schon immer Waffen gegeben, aber in den Indianerreservaten sind sie seit langem verboten. Nach einer langen Gewaltgeschichte, die mit der Eroberung durch die Spanier begann und die noch nicht zu Ende ist, dürfen bewaffnete Personen das Land der Nasa nicht betreten. Waffenbesitz gilt als ein Vergehen, und alle Handlungen, die auf dem Besitz und dem Gebrauch von Waffen beruhen, sind schwere Vergehen, dunkle und unheilvolle Energien, die das Gleichgewicht der Nasa-Welt trüben.

Ana María sagt, der Tote sei ein Räuber gewesen, der mehrmals bei ihnen eingebrochen sei und der gedroht habe, sie umzubringen. Aber bei ihr sei er an die Falsche geraten und sie habe ihn eigenhändig getötet.

Früher waren wir Metzger, wir haben Vieh gekauft und verkauft. Es ging uns richtig gut. Aber als dieser Freund mit seiner Waffe auftauchte, ging es nur noch bergab.

Domingo und der Freund gestanden, den Mann getötet zu haben. Von Ana María wurde gesagt, sie habe mit den Kräften der traditionellen Medizin zum Gelingen des Mordplans beigetragen. Sie soll im Ratsgebäude ein Ritual vollzogen haben, um die Polizei von den Mördern fernzuhalten und um deren Waffen Kraft zu verleihen, ihren tödlichen Auftrag auszuführen.

Auf der Straße rufen die Leute manchmal: Du Hexe! Oder: Mörderin! Du hast ja einen Pferdefuß. Du hast Hörner. Aber die meisten haben ja gar keine Ahnung. Die sagen: Die gehört zu den Mördern, das ist eine Teufelin. Mir ist das egal. Der Einzige, die die Wahrheit weiß, ist der da oben.

Danach kam das Gefängnis in Popayán.

Im Gefängnis waren wir alle zusammen, Guerillakämpfer, Paramilitärs, Drogendealer, alles Mögliche. Mit all denen muss man irgendwie auskommen. Wenn man die in Ruhe lässt, passiert einem auch nichts, aber wenn man Streit anfängt, dann kann es schon gewaltig Ärger geben. Aber ich habe dort nette Freundinnen gefunden, nette Freundschaften geschlossen. Mich mochten alle, sogar die Wächterin, denn ich habe immer alles gemacht, wenn sie Kaffee wollten, habe ich Kaffee geholt, oder Bücher, ich habe immer gemacht, was sie wollten.

Während sie im Frauengefängnis einsaß, waren Domingo und sein Freund im Männergefängnis. Jeder von ihnen musste seine Strafe verbüßen.

Einmal haben sie mich zu ihm gebracht. „Tag der Eheleute“ haben sie das genannt. Ich wusste gar nicht, was gemeint ist. In Handschellen haben sie mich zu Domingo gebracht. Manchmal sind wir auch zu mehreren auf einem Lastwagen oder in einem Bus zum Männergefängnis gefahren. Aber das ist unangenehm. Man wird genau durchsucht, man darf keine Ohrringe tragen, keine Ringe, nicht einmal einen BH, weil das den Signalton auslöst. Das nervt schon. Aber er wurde wütend, wenn ich ihn mal nicht besuchte. Er hat dann gesagt: Warum willst du nicht bei deinem Mann sein? Deshalb musste ich hin, wohl oder übel. Manchmal hatte ich keine Lust, ihn zu besuchen, weil ich gedacht habe: Er ist ja daran schuld, dass ich jetzt im Gefängnis bin.

Ana María erinnert sich daran, dass sie mit Hilfe von Freunden Bittschriften an den Rat ihres Reservats, an die Behörden der Provinz Cauca, an Präsident Santos verfasst hat. Sie bat darum, aus dem Gefängnis entlassen zu werden oder ihre Strafe zumindest in ihrem Reservat bei den Ihren verbüßen zu können.

Sie haben mich aus der Haft entlassen. Und meinen Mann, und seinen Freund. Ich habe gesagt: Entlasst nur mich, aber sie wollten, dass alle drei entlassen werden. Ich war fast sechs Jahre im Gefängnis. Mir fehlten nur noch vier Monate, um die sechs Jahre voll zu machen.

Nach diesen Jahren im Gefängnis beschloss der Rat, die drei zurück ins Reservat zu holen. In den indigenen Gemeinschaften wird oft die Frage gestellt, was eigentlich aus ihnen, ihren Menschen und ihrer Kultur werden soll, wenn Angehörige des Nasa-Volks in Gefängnissen einsitzen, die so sehr auf Bestrafung zugeschnitten und so weit von dem Prinzip der restaurativen Justiz und den bei indigenen Völkern verbreiteten Idealen der Heilung und der Harmonie entfernt sind.

Ich weiß nicht, ich verstehe das nicht. Die Regierenden und die Gemeinschaft sprechen von „Sanktionen“, aber ich weiß nicht, was damit gemeint ist. Ich muss in der Küche Dienst tun, Montag, Dienstag, manchmal auch Mittwoch, Donnerstag, Freitag, Samstag und Sonntag. Aber ich glaube, das hat nur noch wenig mit Sanktion zu tun.

Der Mord geschah 2010. Seit 2016 leben Ana María, Domingo und ihr Freund wieder in der Gemeinschaft, stehen aber unter der Auflage, fünfzehn Jahre lang keinen Alkohol zu trinken und Gemeinschaftsarbeiten zu leisten. Ana María und ihrem Mann ist es darüber hinaus streng verboten, die traditionelle Medizin zu praktizieren oder spirituelle Tätigkeiten auszuüben.

Ihm (Domingo) geht es gut. Manchmal haben wir Streit, wir sind ja keine Heiligen. Manchmal streiten wir uns für nichts und wider nichts. Er ist sehr fleißig. Die Psychologin hatte mir geraten, mich von ihm zu trennen, weil er wieder Böses tun würde, und dann kommen Sie wieder in Gefängnis, hat sie gesagt. Aber ich habe vor Gott geschworen, bis der Tod euch scheidet, also kann ich nicht, wenn ich darüber nachdenke, kann ich nicht.

In der rußigen Gemeinschaftsküche stehen zwei Frauen an den gewaltigen Metallkesseln. Sie stellen einen großen Topf auf das Herdfeuer. Ana María beugt sich über den Topf, rührt die Maissuppe um und als sie das Feuer schürt, leuchtet ihr Gesicht rot im Widerschein der glühenden Holzscheite.

Nach Auffassung der Nasa ist das Leben auf der Erde von einem zerbrechlichen Gleichgewicht aller Wesen geprägt: der Wesen von hier, der von oben und der von unten. Wenn die Rituale nicht vollzogen und die Opfer nicht dargebracht werden, kommt es zu Unfällen, Krankheiten und Leiden. Das Gleichgewicht wird gestört, wenn die uralten Vorschriften nicht beachtet werden, wenn die Kraft der Geister für eine dunkle Sache missbraucht wird oder wenn ein Mensch getötet wird. Dann reißt das Netz, das sonst alle trägt und hält. Das Gleichgewicht wird gestört, wenn Waffen oder fremde Kriege Einzug halten.

Um das Gleichgewicht und die natürliche Ordnung wiederherzustellen, benötigt man “Heilmittel”. Dabei kann es sich um die Kraft der heiligen Pflanzen oder die Fähigkeiten des traditionellen Arztes handeln, die den Körper heilen, die Glühwürmchen einfangen und die Harmonie stiftenden Rituale vollziehen. Manchmal sind aber auch Körperstrafen, Gefängnis oder Sanktionen erforderlich.

Wenn alles glückt, wenn mithilfe der heiligen Pflanzen und der Weisheit der Älteren und des traditionellen Arztes das Gleichgewicht hergestellt ist, wenn die großen Rituale und die kleinen vollzogen wurden, dann kommt der Sommer und es bricht der Tag an, an dem der Himmel aufreißt und den ersehnten Regen spendet. Die Pflanzen gedeihen, die Tiere setzen Fett an und schöpfen Kraft. Die Familie ist vereint, der Körper ist kräftig und bereit, durch die Berge zu ziehen. Die Gemeinschaft ist gestärkt, wächst und gedeiht. Wenn die Erde ausruhen kann, wenn man ihr nicht alles entreißt, was in ihrem Inneren verborgen ist, wenn man nicht mehr Tiere jagt, als man zum Essen braucht, wenn die Menschen sich gegenseitig mit minga *, dann befindet sich die Welt im Gleichgewicht. Die Gewalttätigen, die Kriege führen, sind geheilt, die Zeichen sind günstig und die Schutzgötter zeigen ihre Huld.

Gemeinschaftsarbeiten helfen