Träumende auf der Halbinsel

Bruchstücke aus dem Leben der Schlafenden, des Regens und der Toten

19/07/2017 Tag D +230

Resguardo Mayaban-
gloma

Kreis

Fonseca

Departement

La Guajira

Ganz oben, im äußersten Nordwesten Südamerikas, auf der schmalen Landzunge, die weit in die Karibik ragt, Stammesgebiet der Wayuu seit unvordenklichen Zeiten, zerbersten die dicken Regentropfen laut hörbar am Dach der Hütte. Der Regen fällt in La Guajira, und die drei Kinder betrachten schweigend den aufgeweichten Lehmboden im Inneren ihrer bescheidenen Behausung. Nur einige Augenblicke später kommt die rote Sonne hinter den Wolken hervor. Begeistert von dem Regenwasser, das im Mai eine Seltenheit ist und das in den letzten Jahren auch in den übrigen Monaten weitgehend ausblieb, toben die Kinder über die Ladefläche eines abgestellten Lastwagens. Eins der Kinder ist dabei auf die Hilfe der beiden anderen angewiesen. Schwerfällig zieht der Junge seine linke Körperhälfte nach, die sich jeder Bewegung zu widersetzen scheint. Als er es schließlich auf die Ladefläche geschafft hat, sind die anderen beiden schon längst wieder unten. Ängstlich prüft er, wie er nun zu ihnen hinabklettern soll. Aber dann lenkt ihn irgendetwas ab. Er legt seinen Kopf nach hinten und lässt den Regen in seinen Mund rieseln. Schließlich stößt er einen Schrei aus und trommelt sich wie ein kleiner Gorilla mit den Fäusten auf die Brust.

Auf der Halbinsel gibt es nach Überzeugung ihrer Bewohner eine physische, sichtbare Welt (anasü) und eine geistige Welt (pülasü); in dieser leben die yulujas, die Schatten der von den toten Körpern abgetrennten Geister. Lapü, der Herr der Träume, bildet die Brücke zwischen den beiden Welten; durch seine Vermittlung erhalten die Bewohner der sichtbaren Welt verschlüsselte Botschaften. In diesen geht es um den ersehnten Regen, um die bevorstehende Dürre, um den geeigneten Ort für den Hüttenbau, um die drohende Fehde zwischen zwei Familien, um die glückliche Zukunft, die das Kind in der Wiege erwartet, um Tragik, um den Tod.

Einige behaupten, Lapü bringe nicht nur den Schlafenden ihre Träume, sondern er sei es auch, der den neugeborenen Wayuu die Seele einhaucht und der sie ihnen in der Todesstunde wieder entreißt.

 

Lapü ist gewalttätig, und deshalb leiden die Träumenden manchmal. Aber diejenigen, die nicht träumen, leiden mehr. Ihnen bleibt nur die Krankheit, denn wer nicht mehr träumt, ist fast schon tot. Andere hingegen haben besondere Fähigkeiten; sie können willentlich träumen. Sie sind die Dolmetscher Lapüs; man nennt die Männer Outshi und die Frauen Outsu. Es sind die Schamanen, die traditionellen Medizinmänner und –frauen. Die Wayuu sagen, man muss Lapü gehorchen und zulassen, dass die Outshi oder Outsu die rituellen Handlungen vollziehen, die geboten sind, um ein Unglück abzuwehren.

DIE SCHWARZE SCHLANGE

Damals war ich der Aufpasser des Reservats und hatte Holzfällerarbeiten und Jagd zu überwachen. Deshalb sagten die Jäger, ich sei der Verbündete der Staatsmacht. José Julián ist der Verräter, er hat Verbindungen zur Regierung, zu den Behörden, zum Geheimdienst. An dem Tag hatte ich Angst. Ich hatte von einer riesigen schwarzen Schlange geträumt, die sich um mich wickelte. Und dann kam auch noch frühmorgens der Outshi zu mir:

-„Ich habe schlecht geträumt, José Julián, sie wollen dich töten. Ich brauche ein Goldkorn, ein Stück roten Stoff, einen roten Faden, ich werde dich fünf Tage lang einsperren.“ So geschah es, er sang seine Rituale und schickte mich dann zum Schlafen. Denn wenn man schläft, kommt die Kraft, die bewirkt, dass diejenigen, die einen umbringen wollen, sich gegenseitig umbringen. Ich wurde in einer Höhle eingesperrt, niemand durfte mich sehen, und ich durfte während dieser Zeit nur eine bestimmte pflanzliche Nahrung zu mir nehmen. Als ich wieder aus der Höhle kam, mussten weitere Rituale vollzogen werden, um mich wieder in der Welt willkommen zu heißen.

Das war in der Zeit, als es die paramilitärischen Verbände gab. Als bei uns die Armee einrückte. Jeder gegen jeden. Die FARC-Guerillas kämpften gegen die ELN-Guerillas. Die brachten sich gegenseitig um. Damals konnte man rund um die Uhr Hundegebell hören. Nachts konnte man nicht aus dem Haus gehen. Es wurden Flugblätter abgeworfen, darauf stand, man solle zu Hause bleiben, das war schlimm. Manchmal haben sie sogar versucht, unsere Schamanen zu töten, denn sie merkten natürlich, wie mächtig und weise diese sind. Deshalb ist es wichtig, auf die Träume zu achten. Nur so haben wir überleben können. Nur so haben wir alles überstanden.

 

José Julián, Wayuu von Clan der Uriana. La Guajira.

Vor 4000 oder 5000 Jahren unternahmen Männer und Frauen aus dem Stamm der Arawak einen langen Marsch vom Amazonastiefland ausgehend gen Norden. Sie waren Jäger und Sammler, die auf der Suche nach neuen Jagdgründen waren. Einige von ihnen besiedelten die Inseln, die wir heute als Bahamas und kleine Antillen bezeichnen. Andere drangen in die Anden im Gebiet der heutigen Länder Ecuador und Bolivien vor. Aus dieser Völkerwanderung gingen die heutigen Ethnien der Arahuacos in Guayana sowie der Barés, Mandahuacas, Birrivas, Guarequena, Puipaco, Kurripacos und Yariteros hervor. Diejenigen, die die Guajira-Halbinsel im Nordosten Kolumbiens besiedelten, bildeten die Bevölkerungsgruppen der Guanebucanes, Coanaos, Anates, Caquetios, Eneales, Onotos, Macuiras, Cocinas, Guajiros und Paraujanos. Die Guajiros, die sich selbst einfach als “Wayuu” (Menschen) bezeichneten, siedelten sich im wüstenhaften Nordteil der Halbinsel an und schufen dort ihre Welt aus Göttern und Kriegern. Sie überlebten die übrigen Stämme, die sich im gleichen Gebiet niedergelassen hatten

Barbaren, Strauchdiebe, haben den Tod verdient, gottlos, ohne Gesetz und ohne König, mit diesen Worten beschrieben die Spanier am Anfang des 18. Jahrhunderts das kriegerische Wayuu-Volk, das nicht nur mit Pfeil und Bogen kämpfte, sondern mit Gewehren ausgerüstete Reitertruppen aufstellte.

Die Wayuu trieben längst nicht mehr ausschließlich Ackerbau; sie betätigten sich auch als Fischer und Perlentaucher, sie beide begehrten die Alijunas*. An jener Nordspitze des südamerikanischen Festlands, die die Wayuu als “Weg der Toten” und die Kolonialherren als “Kap Vela” bezeichneten, die angeblich schon Christoph Kolumbus auf seiner dritten Reise gesichtet hatte und wo Amerigo Vespucci seine astronomischen Beobachtungen durchführte, bargen die Wayuu die bei den Weißen begehrten Perlen aus den Fluten.

Alijuna: bezeichnet in der Sprache der Wayuu nicht indigene Personen.

Die Wayuu wurden Viehzüchter; der Pferch wurde ein Grundbestandteil ihrer Ansiedlungen. Die Ziege wurde zum Vermögen der Familie und des Clans. Gerichtsurteile, Mitgiften, Erbschaften und Bündnisse wurden in Ziegen bemessen. Die Ziege war der Unterhalt der Lebenden und das rituelle Opfer, das Lapü im Traum von Outshis wie Juan Pablo einforderte. Juan Pablo hatte wie schon seine Mutter die Gabe, willentlich zu träumen, die Stimme Lapüs zu hören und mit Pflanzen und Bergen zu sprechen.

Wie Juan Pablo erzählen auch die Alten, Maleiwa, der große Geist, habe die Luft, die Erde und alles, was existiert, geschaffen. Er formte auch die ersten Wayuu und teilte sie in Familienverbände ein. Die Ahnen sprachen auch von Mma, der Mutter Erde, die von Juya, dem Herrn des Regens befruchtet wurde. Diejenigen, die von Maleiwa sprechen, berichten, er habe die Familienverbände mit einem Brandmal gekennzeichnet: die Urianas, die Ipuanas, die Jusayús, die Epieyuus, die Pushainas. Maleiwa verteilte auch die Tiere: bestimmte Kleinvögel für den einen Familienverband, der Tukan für einen anderen, der Geier, der Falke, die Schlange, der Tiger. Werkzeuge durften die Tiere nicht benutzen, diese waren dem Menschen vorbehalten. Das einem Familienverband zugeordnete Tier wurde zu dessen Machtsymbol, zu seinem Totem. Deshalb gibt es unter den Wayuu diejenigen, die beim Gehen fest aufstampfen, die Heißblütigen, diejenigen, die auf Steinen schlafen, die Sanftmütigen, die Stolzen, die Schweigsamen, die Tapferen, die Federschmuck tragen, diejenigen, die ihre Farbe verändern können, die Leichtfüßigen.

MEIN TIGERHUND

Es war Tag und ich ging in Begleitung eines Mannes durch die Straßen einer verlassenen Stadt. Auf dem Weg begegnete mir ein kleiner schwarzer Hund mit krausem Fell. Der Hund war sehr zutraulich. Er legte seine Pfoten um meinen Hals und leckte mein Gesicht ab. Der Hund folgte uns auf unserem Weg. Als ich ihn erneut anschaute, war er größer und kräftiger geworden. Sein Körper war jetzt nicht mehr mit schwarzem Fell, sondern über und über mit Schuppen bedeckt. Ich fuhr mit der Hand über die Schuppen und sie fielen ab. Daher machte ich mich daran, sorgfältig alle Schuppen zu entfernen. Unter den Schuppen kam ein gelbes Fell mit schwarzen Flecken und Streifen zum Vorschein. Ein Tiger! Der Tiger legte wie zuvor der Hund seine gewaltigen Pranken um meinen Hals. Dabei ruhte sein Schwanz schwer auf dem Boden. Zu dritt gingen wir durch von Unkraut überwucherte Betonruinen weiter, der Mann, der Tiger und ich.

Ana Karina, hält sich als Außenstehende im Wayuu-Gebiet in La Guajira auf.

Der schwarze Hund ist die Dunkelheit, die Krankheit, der böse Geist, erklärt mir José Julián, der die Worte Juan Pablos übersetzt. Sie sind von einem Häuptling eingeladen worden, von einem Wayuu vom Uriana-Clan, der die Gabe des Tigers besitzt. Der Tiger ist der Häuptling, der König des Waldes. Aber der Hund ist dunkel. Wenn Sie sich einer rituellen Reinigung unterziehen, wird Ihnen nichts passieren. Sie werden nur die dunklen Kräfte spüren. Das kommt daher, dass Sie heilige Orte betreten haben. Höhlen, Berge, Wege. Sie müssen sich der Reinigung unterziehen.

Im Mondlicht der gleichen Nacht hörte ich das eintönige Murmeln Juan Pablos. Ich stand völlig entkleidet auf einer Brachfläche, die zugleich den Hinterhof der Hütte des Medizinmannes bildete. Der Geruch des Chirrinche*, den Juan Pablo auf meinen Rücken spuckte, stieg mir in die Nase. Ich spürte den starken und warmen Atem des Mannes zwischen den Schulterblättern.

Chirrinche: ein alkoholisches Getränk, das aus Wasser und Zuckerrohr gewonnen wird.

Juan Pablo, aus dem Familienverband derer, die über die Steine blicken, kam in den Wüstengebieten des Hochlands von La Guajira zur Welt. Er war noch ein Kind, als er vor mehr als sieben Jahrzehnten in die tiefer gelegenen Teile der Halbinsel kam. Damals trug er noch den Namen Paraipa Ipuana. Erst später änderten die Weißen seinen Namen und gaben ihm und anderen 300.000 Angehörigen der Wayuu ein willkürlich festgelegtes Geburtsdatum. Im Gegenzug erhielt er einen Personalausweis und das Wahlrecht. Auf diese Weise wurde das zahlenmäßig bedeutsame Volk der Wayuu zum Stimmvieh der politischen Parteien.
Juan Pablo -Paraipa- erinnert sich, dass das Reservat damals nur aus sieben Hütten bestand und dass alle Bewohner als Ziegenhirten tätig waren, deren Aufgabe darin bestand, die Tiere morgens zur Tränke zu treiben sie brachten sie in Jagüey *, später auf die Weide und abends zurück in den Stall. Damals gehörte das Land den Wayuu. Es gab keine Zäune, keine Straßen und keine Eisenbahnschienen. Heute ist das Land Eigentum von Fremden.

Jagüey: Teich, in dem die Wayuu Regenwasser auffangen, um es als Trinkwasser für Menschen und Vieh zu nutzen.

47 Tote

Nicht nur der Medizinmann träumt, auch andere sind gute Träumer. Zum Beispiel ich, als ich von meinem Sohn träumte, der mein Ein und Alles war. Im Traum erschien mir meine alte Oma Dolores. Ihr ist es zu verdanken, dass er noch lebt. Der Junge war erst zwei Jahre alt. Er war krank. Seine Mutter fuhr mit ihm nach Valledupar, Barranquilla, Barrancas. Schließlich sagten ihr die Ärzte: Bringen Sie ihn nach Hause, es ist eine chronische Krankheit. Chronische Mangelernährung. Bringen Sie ihn zum Sterben nach Hause. Das brach mir das Herz. Mein einziges Kind! Ich war völlig verzweifelt. Um zwei Uhr in der Frühe wälzte ich mich auf meiner Pritsche hin und her. Ich träumte, dass meine Oma zu mir kam, und hinter ihr kam Maber. Meine Oma sagte: Herr José Julián, steh auf und tu alles genau, wie ich es dir sage. Der Mann, der hier kommt, hat deinen Sohn krank gemacht. Er kann ihn auch wieder gesund machen, aber er muss ihn in Zuckerrohrlikör baden. Er muss ihn drei Tage lang behauchen. Noch halb im Schlaf setzte ich mich auf meinem Lager auf. Ich stand auf und wusch mich. Morgens um vier klopfte ich bei Maber.

–Was ist los, Julián?, fragte er. –Ich habe von Ihnen geträumt. Meine Oma hat mir gesagt, dass Sie mir helfen können. –Und wie soll ich ein Kind heilen?, lachte er.

–Das weiß ich auch nicht, aber das hat sie gesagt und Sie müssen es machen. Ich fuhr ihn mit dem Motorrad zu mir. Er badete das Kind und behauchte ihm den Rücken. Am dritten Tag stand der Junge zum Essen auf. –Maber, sagen Sie mir die Wahrheit. Haben Sie wirklich 47 Tote ausgegraben? –Ja, meine Großeltern und Onkel und Tanten. Um sie auf einen richtigen Friedhof zu bringen.
Zu jener Zeit war Maber zweiter Häuptling, und ich war Aufpasser. Wir waren oft zusammen unterwegs, und einmal kam er auf ein Bier mit zu mir nach Hause. Da hat der Junge ihn gesehen. Und dadurch ist er krank geworden. Denn ich hatte Kontakt mit jemandem, der 47 Tote ausgegraben hat. Und der hatte den bösen Blick.

José Julián, Wayuu vom Uriana-Clan. La Guajira.

Die Wayuu sind davon überzeugt, dass Krankheiten das Ergebnis der Einwirkung äußerer Kräfte auf Körper (ataa) und Seele (aa’in) sind. Daher muss die Outsu oder der Outshi ein bestimmtes Ritual vollziehen. Dabei werden nicht die Symptome, sondern die tieferen Ursachen des Leidens bekämpft. Diese sind nichts anderes als unsichtbare Pfeile (kaliaa), die dazu führen, dass die Seele den Körper des Kranken vorübergehend, und manchmal auch endgültig, verlässt.
Es gibt auch Erkrankungen, die besonders Kinder treffen. Diese werden von „unreinen“ Tieren oder Menschen übertragen. Zu der Verunreinigung kann es kommen, wenn ein Mensch einen anderen tötet oder wenn er beim zweiten Begräbnis, einem langen Zeremoniell, bei dem die Lebenden sich endgültig von dem Verstorbenen verabschieden, nicht sachgerecht mit den Knochen seines Verwandten umgeht. Wird der Tote nicht dem Ritual entsprechend umgebettet, so irrt er in der Wüste umher und verwandelt sich in einen bösen Geist, der Unheil mit sich bringt.

DIE ZIEGEN UND DAS BLEI

Mit Träumen kenne ich mich ganz gut aus; das hat mir mein Großvater beigebracht. Mein Großvater war uralt und er hat mir das alles erklärt. Als ich in der Guerillaorganisation war, träumte ich einmal von Ziegen; es waren sehr viele Ziegen. Da wir uns im Krieg befanden, dachte ich: Das bedeutet Blei, entweder in unserer Einheit oder in einer anderen. Aber es wird auf jeden Fall ein Gefecht geben. Ich sagte zu meiner Lebensgefährtin: Sandra, in den nächsten Tagen wird es krachen. Ich habe von Ziegen geträumt, das bedeutet eine Schießerei mit den Regierungstruppen. Das hat mir mein Großvater beigebracht. Und so war es auch. Drei Tage später gab es ein Gefecht mit den Regierungstruppen. Drei Guerillakämpfer wurden getötet. Auch bei den Sodaten gab es Tote und Verletzte.

Albeiro. Angehöriger der Wayuu und Guerillakämpfer der FARC-EP.

Wenn der Körper schläft, geht die Seele auf Reisen. Dabei begegnet der Träumende dem Tod, den Lapü ankündigt. Wenn ein Krieg bevorsteht, sehen die Träumenden einen anschwellenden Fluss, ein Feuer, das eine Hütte verzehrt, oder einen Mann, der ein Kind zur Welt bringt, als wäre er eine Frau. Vielleicht haben Juan Pablo, seine Mutter, die Mutter seiner Mutter und die Ahnen im Traum die Ankunft der Europäer vorhergesehen. Vielleicht haben sie auch den Perlenkrieg und die katholischen Missionen vorhergesehen, welche die Seelen der Einheimische für ihren Gott und ihre Körper für den Grenzschutz der jungen kolumbianischen Republik benötigten. Vielleicht haben sie auch Dürrezeiten vorhergesehen, haben von vertrockneten Wäldern geträumt, die unter Asphalt und Eisenbahnschienen begraben werden. Vielleicht haben sie im Traum gesehen, wie die Tiere, auf die sie Jagd machten, in der riesigen Grube des Kohlebergwerks Cerrejón * verendeten. Vielleicht ahnten die Träumenden auch, dass bewaffnete Männer und Frauen in olivgrünen Uniformen und mit Gummistiefeln, Angehörige von Guerillagruppen und paramilitärischen Verbänden, aus dem Bergland zu ihnen herabsteigen würden.

Cerrejón großes Übertage-Kohlenbergwerk im Gebiet von La Guajira im nordöstlichen Kolumbien.

Die Erzählung ist dem 1997 veröffentlichten Buch “El camino de los indios muertos”, einer Sammlung von Wayuu-Mythen von Michel Perron, entnommen.

DIE TRÄUME DES SCHÖPFERS

Einmal war Maleiwa, die Schöpfergottheit, betrübt und rief Lapü, der ihm seine Träume deuten sollte. Maleiwa berichtete von einem Traum, in dem er im Haus eingesperrt war. Du wirst erblinden, sagte Lapü. Maleiwa hatte auch davon geträumt, Zuckerrohrsaft zu trinken. Das heißt, du wirst Grippe oder Windpocken bekommen. Er hatte von einem Hund und einem Schwein geträumt. Beide waren wahnsinnig geworden; und er versuchte, sie zu verscheuchen. Du wirst an Masern erkranken. Er träumte, er habe seine Kleidung und seinen Gürtel verloren. Deine Frau wird sterben, folgerte Lapü.*

Wenn es in La Guajira regnet, dann sind die Tropfen Tote aus längst vergangenen Zeiten, die zu den Wayuu zurückkehren. Ihre Seelen haben sich vor langer Zeit von ihren Körpern getrennt und sind auf ihrer Reise ins Jenseits den “Weg der Toten” gegangen. Manche von ihnen sind bösartige Abgesandte der Erdgöttin Pulowi, die ihre unsichtbaren Pfeile verschießen.
Der Tod, den sie bringen, ist notwendig, damit auch in Zukunft Tote als Regentropfen auf die Erde fallen und das Land mit saftigem Gras bedecken, von dem sich die Ziegen ernähren können. Die gleichen Ziegen, von denen sich dann eine neue Generation der Wayuu ernährt.